Freundschaft

Das Licht der Scheinwerfer fraß sich durch das Ende der Nacht. Wie eine Armee stummer Soldaten zogen die Bäume auf beiden Seiten des enger werdenden Wegs in den Lichtkegeln an ihnen vorbei. Die Beleuchtung des Armaturenbretts tauchte das Innere des Wagens in ein schwaches, blaues Licht. Adam sah zur Seite, neben sich auf der Rückbank saß breitbeinig Viktor, wie immer Kaugummi kauend, und wischte mit dem Daumen unregelmäßige Bahnen auf das Display seines Telefons. Ab und zu fluchte er leise. Weiterlesen...

Der Junge und das Mädchen

Die Ebene, durch die sie wanderten, hatte sich seit zwei Tagen nicht verändert. Der sandige Boden war bedeckt von struppigem Gras, das ihnen die Füße zerstach. Nur selten erhob sich ein verkrüppelter Baum aus dem im ewigen Wind raschelnden Gestrüpp. Die Sonne war als ein schwaches Licht von undefinierbarer Form am bleifarbenen Himmel zu sehen. Loran und seine Schwester Myla orientierten sich an diesem Licht, um nicht von ihrem Weg abzukommen. „Beeil dich. Wir müssen weiter“, drängte Loran und beobachtete mit einem Stirnrunzeln den Horizont hinter ihnen. Weiterlesen...

Fremde Federn

Severin Winter blätterte sich im Licht der Schreibtischlampe durch die eng beschriebenen Seiten. Verdammt, dachte er und seine Augen verengten sich, der blöde Japaner hatte es doch tatsächlich geschafft. Er überflog die Formeln und Anweisungen zum Mischen der Reagenzien lediglich, die eingeklebten Ausdrucke waren Beweis genug. Dieser Verlierer Naruto Asakura hatte in nicht einmal zwölf Monaten geschafft, woran Severin selbst seit fünf Jahren forschte, bisher jedoch ohne ernstzunehmenden Erfolg: Das Erbgut bestimmter Krebszellen so zu programmieren, dass sie sich nicht weiter unkontrolliert vermehrten. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber da stand es, in zittriger blauer Schrift auf den linierten Seiten von Asakuras Laborbuch. Der Trottel hatte es nicht einmal weggeschlossen. Severin knallte das Buch zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und massierte sich die Stirn. Weiterlesen...

Segel setzen

Er stand in der Tür zu seinem Büro und sog mit geschlossenen Augen den Geruch ein. Bohnerwachs, altes Papier und die unverwechselbare Würze von kaltem Zigarrenrauch. Natürlich durfte man hier schon lange nicht mehr rauchen, aber der Geruch war noch da. So viele Jahre hatte ihn dieses Aroma begleitet, ihn eingehüllt, war ihm so etwas wie Heimat gewesen. Mit bedächtigen Schritten ging er hinüber zu dem deckenhohen Schrank. Hinter Glas reihten sich die in Leder eingeschlagenen Bücher auf, abgegriffen vom jahrzehntelangen Gebrauch. Er stand davor, die Hände hinter dem Rücken, ließ seinen Blick über die Buchrücken gleiten, wie ein Museumsbesucher über ein wertvolles Gemälde. Weiterlesen...

Im Geschäftsgang

Die Kaffeemaschine röchelte ihm aus dem Halbdunkel entgegen. Regentropfen schlugen gegen das Fenster und rannen in gezackten Bahnen die Scheibe hinab. Davor die Sammlung von kleinen Kakteen, ordentlich aufgereiht. Der Schreibtisch wurde in seinem Zentrum durch eine altmodische Gelenklampe erhellt. Orange, mit schwarzem Knopf oben auf dem Metallschirm, dessen Klicken beim Ein- und Ausschalten Anton Grubers Tag Struktur gab. Morgens um sieben an, nachmittags um vier wieder aus. Weiterlesen...

Die verbotene Tür

Über dem See geht die Sonne unter. Gleich beginnt die dritte Nacht. Ich sitze auf einem Stuhl, neben mir im Gras eine Flasche von diesem unerträglich süßen Wein, und frage mich, was ich hier eigentlich tue. Damit meine ich nicht die Aufgabe. Die Anweisungen des Grafen waren eindeutig. Mit dem letzten Sonnenstrahl schließe ich alle Fensterläden, verriegele die Türen und setze mich im Schein der Kerzen an den grob gezimmerten Tisch. Dann starre ich auf den Durchgang mit der Treppe, die in den Keller führt. Stundenlang. Weiterlesen...

Vergoldeter Schmerz

Börsenkurse wechselten in rascher Abfolge, grüne und rote Zahlen, am unteren Rand lief ein Textband mit Kurznachrichten. In einem Kasten sah man einen Traktor über ein staubiges, abgeerntetes Feld fahren. Der Ton war abgestellt. Mit der Espressotasse am Mund schaute er auf den Flat-Screen. »Schlechte Weizenernte«, murmelte er. »Wie gedacht.« Die Mundwinkel hoben sich zu der Andeutung eines Lächelns. Sein Blick blieb aber unbeteiligt. Das hat mir wieder dreihunderttausend eingebracht, dachte er. Dann wandte er sich vom Bildschirm ab. Benedict Winter stand barfuß neben dem sechsflammigen, freistehenden Herd, den er nie benutzte, in seiner obszön großen, offenen Küche, die genauso makellos weiß war wie seine Leinenhose und das bis zum dritten Knopf geöffnete Hemd, und schaute in das sich in einem raffiniert angelegten Bogen öffnende Wohnzimmer. Weiterlesen...

Spätes da capo

Das Café Vivaldi hatte die besten Jahre hinter sich. Es lag in Gehweite des Alten Konzerthauses und war fast dreißig Jahre ein beliebter Treffpunkt nach den Abendvorstellungen gewesen. Als jedoch die Stammgäste immer älter wurden und ihre Namen schließlich fast im Monatsrhythmus in den Todesanzeigen der Regionalzeitung zu lesen waren, füllte sich das Vivaldi nur noch nach besonderen Premieren in einem Maß, das an alte Zeiten erinnerte. Die wenigen jüngeren Leute, die sich noch für klassische Musik – die, wollte man ehrlich sein, im Alten Konzerthaus bestenfalls gehobenes Mittelmaß war – interessierten, trieb es anschließend eher in die schicken Bars mit den weißen Wänden, wo das Glas Rotwein zwölf Euro kostete. Das Flair von dunklem Holz, dämmrigem Licht, Bleiglasfenstern und nikotinverfärbten Wänden war in diesen Kreisen nicht mehr so ganz à jour. Weiterlesen...