Fremde Federn

Severin Winter blätterte sich im Licht der Schreibtischlampe durch die eng beschriebenen Seiten. Verdammt, dachte er und seine Augen verengten sich, der blöde Japaner hatte es doch tatsächlich geschafft.
Er überflog die Formeln und Anweisungen zum Mischen der Reagenzien lediglich, die eingeklebten Ausdrucke waren Beweis genug. Dieser Verlierer Naruto Asakura hatte in nicht einmal zwölf Monaten geschafft, woran Severin selbst seit fünf Jahren forschte, bisher jedoch ohne ernstzunehmenden Erfolg: Das Erbgut bestimmter Krebszellen so zu programmieren, dass sie sich nicht weiter unkontrolliert vermehrten. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber da stand es, in zittriger blauer Schrift auf den linierten Seiten von Asakuras Laborbuch. Der Trottel hatte es nicht einmal weggeschlossen.
Severin knallte das Buch zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und massierte sich die Stirn. Wie an fast jedem Tag war er der Letzte am Institut, es musste nach zehn Uhr am Abend sein. Vor einer halben Stunde war der Wachmann an seiner Bürotür vorbeigeschlurft und hatte nur wissend genickt. Seitdem er mit seinem überragenden track record und einem Stoß Empfehlungsschreiben der renommiertesten Experten an das neu gegründete Institute for Genome Editing gekommen war, ging das so, hatte er so gut wie kein Privatleben mehr. Nicht, dass es vorher anders gewesen wäre, aber der Wind, der hier wehte, war noch mal einige Grad eisiger.
Dieser Naruto! Übersetzt hieß es scheinbar verborgene Kraft, das hatte er gegoogelt, und Severin musste zerknirscht zugeben, dass er den blassen, verpickelten Wissenschaftler unterschätzt hatte.
Er stieß die Luft aus und erinnerte sich an den Tag, an dem ihn der Big Boss, Professor Chandler, in sein Büro zitiert hatte. Asakura hatte neben Chandlers Tisch gestanden, der wie immer übervoll gewesen war mit Papierstapeln und wissenschaftlichen Magazinen, und zu Boden gesehen, als Severin eingetreten war.
„Ah, Severin, da sind Sie ja“, hatte Chandler gesagt und kaum vom Computerbildschirm aufgesehen. „Das ist Naruto Asakura. Kommt frisch aus Harvard. Ich habe ihn zur Unterstützung auf Ihr Projekt gesetzt.“
Severin hatte nicht glauben können, was er da hörte. Auf sein Projekt gesetzt hieß so viel wie, dass es Chandler nicht schnell genug ging mit den Ergebnissen und er die Konkurrenzsituation noch mehr befeuern wollte. Dieser Arsch, als ob nicht schon drei Wissenschaftler an der Sache arbeiten würden. Jetzt also noch dieses Schlitzauge. Asakura hatte sich nur devot verbeugt, irgendetwas von guter Zusammenarbeit gemurmelt, und war dann aus dem Raum geschlichen.
„Ist noch was?“ Chandler war schon wieder in seine Arbeit vertieft gewesen. Na ja, hatte Severin auf dem Weg in das Labor gedacht, der Neue sah eher harmlos aus, Harvard hin oder her. Von dem würde bestimmt keine Gefahr ausgehen. Aber um sicherzugehen, hatte er auch mit Asakura sein übliches Sabotageprogramm durchgezogen, hatte Pufferlösungen vertauscht, Pipettenspitzen verunreinigt, Arbeitszeit an den immer auf Wochen hinaus ausgebuchten Großgeräten reserviert, ohne sie zu nutzen.
Offensichtlich ohne Erfolg, das blaue Laborbuch lag wie ein Wundmal auf seinem Schreibtisch. Er musste unbedingt etwas unternehmen. Severin sah sich die Notizen noch einmal genauer an. Schien soweit alles plausibel zu sein, auch wenn einige Abschnitte entgegen der ausdrücklichen Anweisung, alle Einträge auf Englisch zu verfassen, in japanischen Schriftzeichen geschrieben waren. Anhand der Notizen schätzte Severin, dass Asakura kurz vor dem Abschluss einer wichtigen Versuchsreihe stand, sicherlich würde er danach die Ergebnisse Chandler präsentieren. Das musste er unbedingt verhindern, er musste ihm zuvorkommen.
Aus der untersten Schublade des Schreibtisches zog Severin sein eigenes Laborbuch heraus und musste erschrocken feststellen, dass der letzte Eintrag bereits vier Monate zurücklag. Noch dazu irgendein unwichtiger Versuch, der natürlich schief gegangen war. Verdammt, was hatte er eigentlich in der Zwischenzeit getan? Er konnte sich nicht erinnern.
Sein anfänglicher Enthusiasmus hier am Institut war fünf Jahre und unendlich viele fehlgeschlagene Experimente später einer zynischen Gleichgültigkeit und hoffnungslosen Inaktivität gewichen, die er Chandler gegenüber zwar meist noch irgendwie überspielen konnte, aber sollte er ehrlich zu sich sein, so war die Luft raus. Aber so was von raus. Dazu kam, dass Severin ziemlich bald gemerkt hatte, dass er sich mit seinem wissenschaftlichen Ansatz verrannt hatte. Ach was verrannt, seine Methode war schlicht und einfach Blödsinn. Aber er war immerhin das Wunderkind, oder nicht? Und Wunderkinder irrten sich nicht.
Denn damals, nach einer Reihe herausragender Publikationen, waren die Anfragen aus der ganzen Welt gekommen. Jede verdammte Uni, jedes Forschungsinstitut hätte ihn genommen, mit Kusshand und ausgerolltem roten Teppich. Auch Chandler hatte sich um ihn bemüht, dieses alte Schlitzohr war mit einem Vertrag ans MIT gekommen, stand auf einmal an seinem Tisch in der Cafeteria, während Severin sein Essen herunterschlang, und lächelte sein wohlwollendes Chandler-Lächeln. Ja, er war der Star damals, und ein Star machte verdammt noch mal keine Fehler.
Aber jetzt musste er handeln. Severin beschloss, Chandler eine E-Mail zu schreiben und ihm anzudeuten, dass er kurz vor einem Durchbruch stünde. Für den folgenden Tag war das monatliche Group-Meeting angesetzt, die perfekte Gelegenheit, die Ergebnisse von Asakura zu präsentieren. Was würde der Japaner schon in der Hand haben? Lediglich ein Laborbuch, dass sich aber seltsamerweise nicht mehr anfinden lassen würde. Severin lächelte, während er die Nachricht an Chandler tippte. Bin gespannt, war die knappe Antwort nur wenige Minuten später. Schlief der eigentlich nie?
Er ging mit Asakuras Laborbuch zum Kopierer auf dem Gang und machte sich Kopien der wichtigsten Seiten. Anschließend holte er sich einen Kaffee und mehrere Schokoriegel aus dem Automaten im Foyer und setzte sich wieder in sein Büro. Es würde eine lange Nacht werden, dachte Severin und begann, die Seiten seines Laborbuchs entsprechend Asakuras Vorgaben zu beschreiben.

Das Meeting war für neun Uhr angesetzt, Severin hatte es gerade noch geschafft, eine Präsentation zusammenzuschustern. Größtenteils Text und ein paar oberflächliche Flow Charts, die seine Ausführungen unterstreichen sollten. Er hatte Asakuras Arbeiten nicht bis ins letzte Detail nachvollziehen können, aber die Grundrichtung war klar und nur darum würde es in diesem Meeting gehen, anschließend konnte er sich immer noch richtig einarbeiten. Zwei Abbildungen aus dem Laborbuch, die seiner Meinung nach die Methode sehr gut veranschaulichten, hatte er direkt in die Präsentation übernommen. Insgesamt sicherlich nicht sein bester Vortrag, aber eine halbwegs runde Sache, und das Wichtigste war ohnehin, das Ganze mit seinem Namen zu verknüpfen und Chandler zu überzeugen.
Wie immer hatte es niemand gewagt, dem Meeting fernzubleiben, die Stuhlreihen waren vollständig besetzt, ganz vorne saß Chandler mit übereinandergeschlagenen Beinen und vor dem Oberkörper verschränkten Armen und sah Severin mit einer Mischung aus Interesse und Skepsis an.
„Liebe Kollegen, ihr habt lange nichts über meine Arbeiten gehört. Aber das hatte einen Grund. Ich war da einer höchst spannenden Sache auf der Spur, auf die ich durch Zufall bei meinen Experimenten gestoßen bin“, sagte Severin und startete die Präsentation. „Daran habe ich die letzten, na ja, zehn Monate gearbeitet und jetzt bin ich so weit, erste Ergebnisse zu präsentieren. Ganz unbescheiden, ich denke, das könnte der Durchbruch sein.“
Ein guter Start, fand Severin, damit hatte er erst einmal die volle Aufmerksamkeit. Er warf Chandler einen Blick zu, der ungerührt zur Leinwand schaute, auf der Severins Präsentation flimmerte. Naruto saß in der letzten Reihe, wie Severin bemerkte, die Stirn gerunzelt. Ahnte er etwas?
Er klickte sich durch die ersten Folien, holte bei seinen Erklärungen weit aus und widmete sich lange den Flow Charts, um die molekularen Vorgänge zu beschreiben, die seiner Methode zugrundeliegen würden. Zufrieden nahm Severin das Gemurmel im Raum zur Kenntnis, das nur bedeuten konnte, dass seinen Kollegen die Tragweite der präsentierten Ergebnisse bewusst war. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich Chandler mit zusammengekniffenen Augen das Kinn rieb.
Das hättest du mir nicht mehr zugetraut, was? Severin konnte es sich nicht verkneifen, kurz in seine Richtung zu nicken.
Zum Schluss präsentierte er noch die beiden Abbildungen aus dem Laborbuch, Mikroskopaufnahmen, die die Veränderungen menschlicher Zellen zeigten, die entsprechend der Methode behandelt worden waren. Dann bemerkte Severin die Unruhe im Raum. Hatte er zuvor nur das eine oder andere Flüstern gehört, Stühlerücken, das Klacken von Laptoptastaturen, so sprachen jetzt alle durcheinander. Er schien seine Kollegen verblüfft zu haben. Severin lehnte sich lässig gegen das Pult und genoss das Durcheinander. Das Wunderkind ist wieder da, dachte er.
Plötzlich erhob sich Chandler mit hochrotem Kopf. „Ist das Ihr Ernst?“
„Wie bitte?“, fragte Severin und musste schlucken.
„Severin, wollen Sie uns verarschen?“ Chandler schrie jetzt und zeigte mit einem Finger auf ihn.
„Ich, äh ...“
„Die Abbildungen sind doch original aus dem Artikel von John Winfield.“
„Winfield? Sie meinen, den aus dem Smith Lab?“
„Wen denn sonst? Vor sechs Monaten publiziert. Also, noch mal, was soll das?“
Severin hörte vereinzeltes Lachen in der Menge.
„Nun ...“ Schweiß trat ihm auf die Stirn und seine Hand zitterte, als er auf die Leinwand deutete.
„Ach, vergessen Sie es.“ Chandler machte eine wegwerfende Handbewegung und ging mit energischen Schritten zur Tür. Er drehte sich noch einmal um und sah Severin mit kalten Augen an: „Das war’s für Sie an diesem Institut.“ Damit verließ er den Raum.
Severin glotzte mit offenem Mund in die Wand aus Augen und grinsenden Mündern. Ganz hinten hatte sich Asakura erhoben, legte mit einem Lächeln die Handflächen vor der Brust aneinander und verbeugte sich leicht. Dann nahm er ein dickes schwarzes Buch vom Stuhl auf und hielt es in die Luft. Ein Laborbuch, dachte Severin und schüttelte langsam den Kopf. Asakura, dieser Mistkerl!


© Copyright Oliver Riede


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