Vergoldeter Schmerz
Börsenkurse wechselten in rascher Abfolge, grüne und rote Zahlen, am unteren Rand lief ein Textband mit Kurznachrichten. In einem Kasten sah man einen Traktor über ein staubiges, abgeerntetes Feld fahren. Der Ton war abgestellt. Mit der Espressotasse am Mund schaute er auf den Flat-Screen.
»Schlechte Weizenernte«, murmelte er. »Wie gedacht.« Die Mundwinkel hoben sich zu der Andeutung eines Lächelns. Sein Blick blieb aber unbeteiligt. Das hat mir wieder dreihunderttausend eingebracht, dachte er. Dann wandte er sich vom Bildschirm ab.
Benedict Winter stand barfuß neben dem sechsflammigen, freistehenden Herd, den er nie benutzte, in seiner obszön großen, offenen Küche, die genauso makellos weiß war wie seine Leinenhose und das bis zum dritten Knopf geöffnete Hemd, und schaute in das sich in einem raffiniert angelegten Bogen öffnende Wohnzimmer.
Und jetzt? Biotech? Seltene Erden? Langweilige DAX-Shorts? Er würde sich darum kümmern müssen, die Gewinne rasch wieder zu investieren. Noch heute. Nur so blieb alles im Fluss. Vielleicht mal wieder etwas in Asien probieren?
Er stellte die Tasse ab und schlenderte ins Wohnzimmer. Auch hier herrschte Weiß vor. Weißer Teppich, weiße Ledercouch und dazu passende Sessel, die sich vor dem offenen Kamin gruppierten, weiße Wände. Der große, rechteckige Esstisch wirkte fast wie ein Fremdkörper. Dunkles, gestreiftes Makassar-Ebenholz, elegant zusammengesetzt, so dass sich auf der Tischplatte ein sternförmiges Muster zeigte.
Benedict stellte sich an die Panoramascheibe und blickte in den parkähnlichen Garten hinaus. Von der großzügigen, vollkommen leeren Terrasse führte ein gekiester Weg über die sanft abfallende Rasenfläche bis zum Teich mit den kostbaren Fischen. Alte Obstbäume, perfekt gepflegt von zwei Gärtnern, standen in voller Blüte. Links, nur halb zu sehen, der Tennisplatz. Plötzlich fiel ihm auf, dass die brusthohe Hecke, die einen Teil der Terrasse umgab, an einigen Stellen schon wieder etwas auswuchs. Gar nicht schön. Andererseits, was machte das schon? Er hatte das Haus ohnehin seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Das letzte Mal, dass die Terrasse benutzt wurde, musste zur Einweihungsfeier gewesen sein. Mit drei Kollegen der Investmentbank, die er kurz darauf verlassen musste, weil er mit seinen privaten Anlagen bereits ein Vielfaches von dem machte, was sein Chef in dem Laden verdiente, hatte er vor vier Jahren dort gestanden mit Bier, Whisky und Sushi und die gespielt lockeren Beifallsbekundungen entgegengenommen, mit denen sie ihren Neid auf das Haus, den Garten, das Geld von Benedict nicht überspielen konnten. Er hatte sie danach nie wieder eingeladen. An ein oder zwei Abenden hatte er sich in jenem Sommer noch einen Stuhl nach draußen gestellt und den Sonnenuntergang angeschaut. Aber auch das ging bald nicht mehr. Seitdem blieb die Glastür geschlossen.
Benedict strich sich das dichte braune Haar nach hinten, verfolgte den Flug eines Vogels am Himmel, die Flügel ausgebreitet im leichten Sinkflug, als das Mobiltelefon brummte. Er zog es aus der Hosentasche. Eine Nachricht von Roxana: Wann können wir uns denn jetzt mal sehen?
Roxana war schön, zumindest, wenn man den Fotos trauen konnte, die sie ihm schickte. Er hatte die Chats mit ihr überraschenderweise genossen. Nur, wo sollte das hinführen? Auf diese Art, online, den Schein zu wahren, war kein Problem. Aber dann? Sie würde etwas von ihm erwarten, dass er nicht erfüllen konnte. Natürlich würde sie das. Die normalste Sache der Welt. Sich treffen, reden, lachen, berühren. Wie sollte das gehen? Wie sollte er das schaffen? Und unweigerlich würden dann die Fragen kommen. Und nach den Fragen, die er nicht beantworten wollte, die Enttäuschung. Er nahm sich zum wiederholten Mal vor, sein Profil zu löschen.
Sein Blick ging zurück zu dem Flachbildschirm, der in einer Ecke der Küche angebracht war. Immer noch wechselten Zahlen – Aktienkurse, Währungen, Rohstoffe – in raschem Tempo. Benedict nahm die Informationen in sich auf, ließ sich treiben auf dem Strom der Daten, versuchte, in diesen Zustand des totalen Fokus zu kommen, auf der Suche nach etwas Auffälligem, einem Muster, seinem nächsten Treffer. Fast wie ein Schachspieler, der in der Verteilung der Figuren auf dem Brett die bestmögliche Fortsetzung sucht. In sechzig Prozent der Fälle wurde er fündig. Das war zumindest seine Marke, die er sich nach vielen Jahren und hunderten von Stunden der Analyse von Kursentwicklungen, Indikatoren, Pressemitteilungen, geostrategischen Entwicklungen und purer Mathematik gesetzt hatte. Er hatte ein System entwickelt und es immer weiter verfeinert, geschliffen von Erfolgen, noch mehr von Niederlagen. Kein bloßer Algorithmus, viel zu statisch. Obwohl er sich durchaus verschiedener, selbst geschriebener Programme bediente. Aber das Ganze war komplexer, organischer. Und er war das Zentrum. Sechzig Prozent Erfolgsquote war seine Maßgabe, darauf hatte er seinen Ansatz abgestellt. Konservativ genug, um eine ausreichende Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu haben. Ambitioniert genug, um auch misslungene Investments abfedern zu können. Alles eine Frage der Verteilung und natürlich der Selbstbeherrschung. Er hatte genug gierige, von zufälligen Erfolgen blinde Anleger erlebt, die sich kopfüber in ein ach so sicheres Investment stürzten und mit einer falschen Entscheidung alles verloren hatten. Einige von ihnen durchaus mit exorbitanten Gehaltsschecks in ihren Bankerjobs. Das würde ihm nicht passieren, denn er wich nie von seinem System ab. Niemals. Und sein commitment war absolut.
Das Telefon klingelte. Die Hausleitung. Er riss sich vom Bildschirm los und ging durch die Eingangshalle in das Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch stand das Telefon, eine geheime Festnetznummer. Altmodisch, aber wirksam. Nur eine Person hatte diese Nummer.
„Hallo Mama.“ Benedict kniff die Augen zusammen, rieb mit Zeigefinger und Daumen über die Lider.
„Hallo Benny. Geht es dir gut?“
Niemand außer seiner Mutter hatte ihn jemals so genannt. Er ließ ihr diesen Namen, gestattete ihr diese letzte Form von Nähe.
„Sicher. Warum sollte es nicht?“
„Du hast dich nicht gemeldet.“
Wie immer: Vorwürfe, nichts als Vorwürfe.
„Ich hatte zu tun", sagte Benedict, bemüht ruhig zu bleiben.
Er atmete tief ein, lehnte sich gegen den Tisch. Die Jalousien waren heruntergelassen, die Lichter an der Zimmerdecke stark gedimmt. An der gegenüberliegenden Wand waren in drei Reihen übereinander, Rahmen an Rahmen, fünfzehn Flat-Screens angebracht. Auch hier: Börsenkurse, Charts, News im stummen Wechsel. Scheinbar sagte jetzt doch der erste Zeuge im Finanzskandal aus. Das konnte interessant werden, er musste da unbedingt dran bleiben.
„Ich mache mir Sorgen, wenn du dich nicht meldest. Wir haben doch eine Vereinbarung.“
„Ich weiß, Mama. Es tut mir leid."
„Schon gut. Jetzt höre ich ja deine Stimme.“
Kurzes Schweigen. „Isst du auch genug?“
Benedict lächelte müde. „Natürlich.“
„Wirklich? Ich könnte ...“
„Glaub mir, Mama. Alles gut.“
„Ich mache mir halt Sorgen.“
„Ich weiß. Es tut mir leid“, sagte er wieder. Automatisch. Es war wie ein Tanz, immer rundherum. Wann würde er sich daraus lösen?
„Wann sehen wir uns denn endlich? Ich ... so lange habe ich dich nicht gesehen.“
Benedict atmete kraftlos aus. „Ich weiß nicht. Es ist immer noch schwierig. Viel zu tun auch.“
„Das sagst du seit fast einem Jahr. Benny ...“ Er hörte sie leise schluchzen, hatte aber nicht die Kraft, tröstende Worte zu finden.
„Also gut“, sagte sie schließlich. „Du rufst Donnerstag an?“
„Ja.“
„Versprich es!“
„Versprochen.“
„Nicht vergessen.“
„Nein, ich denke daran.“ Seine Hand krampfte sich um den Rand der Tischplatte. Er war erstaunt über den ruhigen Ton seiner Stimme.
„Ich hab‘ dich lieb, mein Sohn. Und ich glaube fest daran, dass der Herr ...“
„Mach’s gut Mama.“ Er unterbrach das Gespräch, legte das Telefon langsam auf die Station zurück. Seitdem der Diabetes sie in den Rollstuhl gebracht hatte, steigerte sie sich noch mehr in diesen Jesus-Quatsch rein. Er wunderte sich immer wieder darüber, dass jemand ernsthaft davon überzeugt sein konnte, irgendeine metaphysische Gestalt würde die Kraft oder auch nur das Interesse haben, das Leben eines Menschen zu bestimmen.
Aber so war sie ja immer gewesen, hatte sich von anderen Kraft und Richtung erhofft. Unfähig, ihr Leben selbst zu leben oder gar zu bestimmen. Erst war es Benedicts Vater gewesen, nach dessen Tod dann Benedict selbst, der ihr Stärke geben sollte. Dabei war er doch selbst fast noch ein Kind gewesen. Und immer diese Ängste. Krankhaft. Gefährlich. Zerstörerisch. In ihren seelischen Abgrund hatte sie ihn gerissen. Nie wieder würde er ihr das gestatten, dafür hatte er zu lange gekämpft – und zu viele bleibende Wunden davongetragen. Manchmal hasste er sie. Hasste sie für das, was ihm jetzt im Weg stand. Das, was aus ihm geworden war. Und dann wieder hatte er ihr Bild vor Augen. Eine fette Frau, mit geschmacklosen Klunkern aus Lapislazuli um den Hals und die Handgelenke, die chronisch entzündeten Beine umwickelt mit Lagen von Verbänden, das Gesicht schlaff, schon lange ohne Glanz, die Mundwinkel in mürrischer Abneigung gegen jeden und alles festgefroren. Auch wenn er es nicht wollte, sie tat ihm leid. Und konnte man so jemanden hassen?
Die Türklingel holte ihn aus seinen Gedanken. Benedict griff zur Fernbedienung auf dem Schreibtisch und holte sich mit einem Knopfdruck das Bild der Überwachungskamera über der Toreinfahrt auf den Bildschirm. Der Lieferservice. Er nahm das Telefon in die Hand.
„Hallo.“
„Ihre wöchentliche Lieferung, Herr Winter.“
„Sie wissen ja Bescheid.“
Benedict gab einen Code auf dem Handy ein und beobachtete, wie das mächtige Tor zur Seite rollte und der Lieferwagen über den gekiesten Weg in Richtung Haus fuhr. Er ging mit langsamen Schritten durch die Eingangshalle. Durch die gläserne Flügeltür, die in das Wohnzimmer führte, fiel das rosarote Licht der untergehenden Sonne auf den weißen Marmor. Er betrat die Küche und hörte das Rummsen der Kisten und Flaschen, die vom Lieferservice hinter der Tür des Seiteneingangs abgestellt wurden. Benedict stellte sich vor die Tür und wartete. Als er das Klopfen hörte, nahm er einen Umschlag von der Anrichte und schob ihn unter der Tür hindurch. Zweihundert Euro Trinkgeld. Kurz darauf wurde der Motor angelassen und das Knirschen von Kies war zu hören. Erst als alles wieder ruhig war, öffnete Benedict die Tür und trug die Lebensmittel hinein. Er entnahm einem Karton eine Flasche Rotwein und entkorkte sie. Hundertzwanzig Euro, dachte er, eigentlich sollte ich sie mit jemandem teilen. Gläser, die leise klingend aneinanderstoßen, im Hintergrund leise Musik, ihre Hand haltend.
Er musste lächeln bei diesem verrückten Gedanken. Er konnte ja nicht einmal dem Mann vom Lieferservice die Tür öffnen.
Aus dem Vitrinenschrank nahm er eines der auf Hochglanz polierten, penibel aufgereihten Kristallgläser in die Hand. Zweimal in der Woche kam die Reinigungskraft und hatte zuletzt in Ermangelung von Aufgaben die Gläser gewienert. Benedict goss sich ein, stellte sich an die Glasfront zum Garten. Die Sonne war nur noch ein schwaches rosafarbenes Licht hinter den Bäumen. Langsam trank er den Wein, während es im Zimmer dunkel wurde. Als das Glas leer war, spülte er es in der Küche aus und stellte es zurück in den Schrank.
Dann ging er in sein Arbeitszimmer. Er hatte noch die ganze Nacht.
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