Spätes da capo
Das Café Vivaldi hatte die besten Jahre hinter sich. Es lag in Gehweite des Alten Konzerthauses und war fast dreißig Jahre ein beliebter Treffpunkt nach den Abendvorstellungen gewesen. Als jedoch die Stammgäste immer älter wurden und ihre Namen schließlich fast im Monatsrhythmus in den Todesanzeigen der Regionalzeitung zu lesen waren, füllte sich das Vivaldi nur noch nach besonderen Premieren in einem Maß, das an alte Zeiten erinnerte.
Die wenigen jüngeren Leute, die sich noch für klassische Musik – die, wollte man ehrlich sein, im Alten Konzerthaus bestenfalls gehobenes Mittelmaß war – interessierten, trieb es anschließend eher in die schicken Bars mit den weißen Wänden, wo das Glas Rotwein zwölf Euro kostete. Das Flair von dunklem Holz, dämmrigem Licht, Bleiglasfenstern und nikotinverfärbten Wänden war in diesen Kreisen nicht mehr so ganz à jour.
Und so verstaubte das Vivaldi sprichwörtlich immer mehr, während sich an den meisten Abenden selten mehr als eine Handvoll Gäste hierher verirrte. Am meisten Verlass war auf Georg Sassling und Knut von Bentheim. Sassling, ein großer, schlanker Mann, den seine Halbglatze mit dem grauen Haarkranz noch hagerer wirken ließ, saß wie immer an dem Tisch in der hinteren Ecke, von dem aus man den Tresen und die Eingangstür im Blick hatte. Das braune Sakko war vor fünfzehn Jahren neu gewesen, die Cordhose ausgebeult, aber die Schuhe glänzten wie polierter Obsidian. Er hatte die Zeitung vor sich ausgebreitet, daneben das zweite Glas Rotwein. Drei würde er trinken, wie fast jeden Abend. Der Wind drückte an die Fenster und er sah kurz auf. „Mistwetter.“
„Alter Nörgler“, kommentierte von Bentheim vom Nachbartisch, ohne von seiner Lektüre aufzusehen. Er war ein zur Fülle neigender Mann mit vollem, weißem Haar, das er streng nach hinten gekämmt hatte, mit knolliger Nase und wurstigen Fingern, die jetzt nach dem Glas mit dem honiggelben Weißwein griffen. Grauburgunder, nie etwas anderes.
„Du hast gut reden. Wohnst ja gleich um die Ecke.“
„Er ist und bleibt ein alter Nörgler, oder Wolfi?“
Wolfi, eigentlich Wolfgang Matschke, saß auf einem Barhocker am Tresen und löste mit verkniffener Miene das Kreuzworträtsel des Anzeigers. Er war der Besitzer des Café Vivaldi und war genau wie seine Stammgäste mit ihm alt geworden.
„Unbedingt“, rief Wolfi über die Schulter.
„Ihr könnt mich mal gernhaben. Wolfi, wenn du so mit deinen Gästen umspringst, ist es ja kein Wunder, dass der Laden leer ist.“
„Liegt wahrscheinlich am Wetter.“
Wolfi und von Bentheim kicherten leise, dann schlug von Bentheim mit der flachen Hand auf den Tisch. „Das gibt es nicht.“
Sassling sah von seiner Zeitung auf. „Was ist denn in dich gefahren?“
„Hier.“ Von Bentheim hielt die Zeitschrift hoch, in der er gelesen hatte.
„Crescendo? Wusste gar nicht, dass es dieses Käseblatt noch gibt. Hab‘ ich nicht mehr gelesen, seit sie damals mein Konzert in Berlin verrissen haben. Schreibst du noch für die?“
„Schon länger nicht mehr“, sagte von Bentheim. „Aber manchmal wissen sie doch noch hier und da meine Expertise zu schätzen.“
„Expertise, schon klar. Du hast doch seit Jahren keine Note mehr aufs Blatt gebracht.“
„Kein Streit“, rief Wolfi von der Theke.
„Mein Klavierkonzert in A-Dur ...“
„Opus drei und gleichzeitig Opus finito“, unterbrach Sassling und lachte.
„Das wollte ich jetzt eigentlich gar nicht besprechen“, sagte von Bentheim und wedelte mit der Zeitschrift. „Kannst du dich noch an Anselm Friedemann erinnern?“
Sassling kniff die Augen zusammen. „Du meinst: Amadeus?“, fragte er zögerlich.
„Amadeus? Ach ja, genau.“ Von Bentheim lachte schallend. „Das hatte ich ganz vergessen. Amadeus. So haben wir ihn immer genannt auf der Akademie.“
„Wegen seiner kompositorischen Vorliebe für süßliche Sechzehntelverrenkungen in den hohen Lagen", sagte Sassling.
„Er hatte aber Talent.“
„Mehr als wir alle zusammen. Wie lange ist das jetzt her? War der nicht vollkommen aus der Öffentlichkeit verschwunden?“
Von Bentheim nickte und tippte sich an die Stirn. „Hatte wohl nach dem Tod seiner Frau einen Zusammenbruch oder so.“
„Susanne“, sagte Sassling leise, wie zu sich selbst.
„Eine Schönheit. Wirklich traurig.“ Knut von Bentheim warf Sassling einen fragenden Blick zu. "Georg, alles klar?"
"Was?" Sassling sah von Bentheim an, als würde er ihn gerade erst wahrnehmen.
"Alles in Ordnung? Du wirkst auf einmal so abwesend", sagte von Bentheim.
„Ich ... Nein, alles klar. Was ist denn jetzt mit Anselm?“
Von Bentheim blätterte umständlich durch das Magazin. „Hier steht ... Moment, ah ja. Anselm Friedemann bringt neues Werk auf die Bühne. Für Klavier und Streicher. Seit vielen Jahren nichts gehört, und so weiter, meldet sich zurück. In a-Moll. Premiere ist in einer Woche. Im Weißen Palais.“
Sassling verschränkte die Arme. „Nicht gerade die erste Adresse.“
„Du nun wieder.“
Das dritte Glas hätte es nicht mehr gebraucht, sagte sich Georg Sassling, als er die Tür zu seiner kleinen Wohnung öffnete. Er fühlte, wie sich pochend ein Kopfschmerz aufbaute und nahm sich vor, gleich zwei Aspirin einzunehmen. Sonst wäre der morgige Tag gelaufen. Nicht, dass er etwas Besonderes vorgehabt hätte, aber mit einem Kater auf dem Sofa zu liegen, dafür war er eigentlich zu alt.
Er stolperte in die dunkle Wohnung, öffnete mühsam die Schuhe und tauschte sie gegen die abgewetzten Hausschuhe. Erst im Wohnzimmer machte er Licht, betrat die angrenzende Küche und goss sich ein Glas Wasser ein. Dann ließ er zwei Brausetabletten Aspirin hineinplumpsen und lauschte kurz mit geschlossenen Augen dem Sprudeln der sich auflösenden Medizin. Mit dem Glas in der Hand ging er in das Wohnzimmer zurück, zur Wand mit den gerahmten Fotografien. Da, als junger Mann mit Haaren bis über die Ohren. Die wilden Sechziger. Am Klavier, in irgendeiner verrauchten Kneipe. Blues, Jazz. Auf der Akademie waren sie dann Rebellen. Oder dachten es zumindest. Wollten die sogenannte klassische Musik entstauben, neu erfinden. Und hatten sich dann alle dem Zauber, der Magie von Brahms, Schubert, Beethoven, ja auch Beethoven, nicht entziehen können. Waren der meisterhaften Anordnung von Noten, dem perfekten Zusammenspiel der Instrumente verfallen und wollten alle „das große Werk“ schaffen. Dort standen sie auf den Stufen der Akademie, die Haare schon kürzer, mit gewichtigem Blick. Sassling hatte bald erkannt, dass er nicht für das Komponieren geschaffen war, und sich auf das Dirigieren konzentriert. Sein erstes Engagement, in Aachen. Im Frack vor dem Orchester. Dort ein Foto während einer Probe, diskutierend mit einem jungen Geiger. Gute Jahre waren das gewesen. Er hatte anschließend Stück für Stück an seiner Karriere gearbeitet. War nie zu mutig gewesen und nie zu langweilig.
Und dann der Höhepunkt, die Einladung nach Berlin. Ein Abend als Gastdirigent. Brahms, Klavierkonzert d-Moll. Mutig in einer Zeit, als alle nur Beethoven hören wollten. Darauf hatte er hingearbeitet. Und es vermasselt. Das war ihm schon nach den ersten Takten klar gewesen. Hektisch. Uninspiriert. So stand es hinterher im Crescendo. So sehr er das Blatt dafür gehasst hatte, der Autor hatte mit allem Recht gehabt. Er war so verdammt aufgeregt gewesen. Nervös, fahrig. Mit diesem missglückten Abend hatte er nicht nur seiner Karriere nachhaltig geschadet. Im Grunde hatte er sich von dieser Niederlage nie wieder erholt. Und dennoch, an diesem Abend, nach dem Fiasko, hatte ihm sein Freund Anselm Friedemann seine Frau vorgestellt. Susanne.
Sassling trank die saure Aspirin-Flüssigkeit und betrachtete das Foto. Anselm, Knut und er nebeneinander im Foyer der Philharmonie. Sassling war die Enttäuschung über den Abend deutlich anzusehen. Neben Anselm stand Susanne. In einem atemberaubenden Kleid, Hüften zum Niederknien, die langen blonden Haare in der damaligen Mode hochfrisiert, kokett in die Kamera lächelnd. Damals war sie zarte einundzwanzig Jahre alt gewesen, hatte sich wohl als Muse des aufgehenden Sterns Anselm Friedemann gesehen. Anselm mit seinem verträumten Blick. So beneidenswert gut Klavier konnte der spielen.
Susanne hatte in ihrem fast kindlichen Optimismus Sasslings Niederlage heruntergespielt, während Knut und Anselm betreten in die Luft schauten. Sie hatte keine Ahnung vom Orchesterbetrieb, von den Eitelkeiten und Machtkämpfen. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb Hals über Kopf in sie verliebt.
Er leerte das Glas und stellte es auf die Kommode neben dem Klavier, auf dem er schon seit Jahren nicht mehr gespielt hatte. In der untersten Schublade ganz hinten lag der Stapel mit den Fotografien. Im schwachen Licht der Stehlampe blätterte er gedankenverloren durch die Fotos, durch seine Erinnerungen. Susanne am Küchentisch in seiner damaligen Wohnung, die nackten Beine an den Körper gezogen, ein Sonnenstrahl spielt in ihren Haaren, sie lächelt verschlafen in die Kamera. Susanne im Park, einen Baum umarmend, die Augen geschlossen. Susanne mit Zigarette im Mund posierend, der Blick lasziv und gleichzeitig kühl. Susanne lesend im Bett, konzentriert, die Stirn leicht in Falten gelegt.
Seine Affäre mit ihr hatte ein Jahr nach der ersten Begegnung begonnen. Ein Jahr, in dem er fast jeden Tag an sie denken musste, sie begehrte wie nie zuvor eine Frau. Er zog nach Berlin, vermeintlich um beruflich neu anzufangen, doch die Wahrheit war, er wollte ihr nah sein. Allein die Tatsache, dass sie in derselben Stadt wohnten – einer großen Stadt, einer anonymen Stadt, sicherlich, aber immerhin –, die theoretische Möglichkeit, sie könnten sich zufällig begegnen, beim Einkaufsbummel, in einem Café, in der U-Bahn, ließ ihn vibrieren, jeden Tag. Wenn sie sich in Begleitung von Anselm zum Abendessen in einem Restaurant trafen, benahm er sich täppisch, so dermaßen verknallt in Susanne, dass er es kaum wagte, sie anzusehen, müsste er doch durch den Glanz in ihren Augen augenblicklich verbrennen.
Dass Anselm diese unglaubliche Begierde, die er für seine Frau empfand, nicht bemerkte, war unfassbar. Aber er redete meist wenig, wirkte wie immer etwas abwesend, und wenn er sich am Gespräch beteiligte, dann galt sein Interesse ausschließlich der Musik. Susanne wirkte verliebt, wahrhaftige Bewunderung lag in ihrem Blick, wenn sie Anselms pointierten Ausführungen lauschte, die so unverschämt intelligent waren. Nie hätte sich Sassling so ausdrücken, überhaupt so denken können. Susanne aber waren seine Gefühle nicht entgangen, wie hätten sie auch. Sie warf ihm Blicke zu, eindeutige Blicke, die ihn noch verrückter machten. Blicke, die ihn aufzufordern schienen: Na los, frag‘ mich. Er konnte zwar an nichts anderes mehr denken, als daran, wie es wäre mit ihr zusammen zu sein. Sie zu küssen, ihre Haut zu berühren, sie langsam auszuziehen, mit ihr zu schlafen. Aber er hatte nicht den Mut, sich ihr abseits der Treffen mit Anselm zu nähern. Auf welche Art auch immer.
Und eines Tages rief Susanne ihn an. Es war ein schöner Sommertag am frühen Abend. Bis heute wusste er nicht, wie er es geschafft hatte, ruhig zu bleiben, halbwegs souverän plauderte er mit ihr über Belangloses. Schließlich erzählte sie ihm, dass Anselm nicht in der Stadt sei, eine Konzertreise oder irgendetwas in der Art. Eine Stunde später stand Susanne vor seiner Tür.
Sie würde Anselm nie verlassen, das hatte sie von Anfang an klargestellt. Erzählte von labiler Psyche, Medikamenten auch, Genie und Wahnsinn, ihrem Leben, dass sie ihm widmen würde. Er hatte es akzeptiert, zunächst ganz der Coole, den Reiz der Situation, des Verbotenen auskostend, später allerdings immer unwilliger. Die schönsten Tage mit ihr wurden getrübt durch den immer schon über ihnen schwebenden Abschied, durch die ihn zunehmend innerlich zerfressende Tatsache, dass sie Anselms Frau war und er nur der Liebhaber, zweite Reihe, der Mann, den sie irgendwann fallenlassen würde. Und dabei liebte er sie so sehr. So unerträglich intensiv. Immer öfter stritten sie. Seine Forderungen, sie sollte Anselm verlassen, kamen in immer kürzeren Abständen und mit zunehmendem Drängen. Er wusste, dass er sie damit verlieren würde, aber törichterweise ließ ihn dieser Gedanke nur noch heftiger eine Trennung von Anselm fordern. An einem dieser Abende, am Ende eines honigfarbenen Tages, als sich die Schwermut wieder über ihn legte, hatten sie ihren bis dahin heftigsten Streit. Susanne hatte getrunken, mindestens eine Flasche Wein. Hassen würde sie ihn, das waren die letzten Worte, dann rannte sie aus der Wohnung. Er knallte die Tür zu und soff, bis er am Tisch zusammenbrach. Susanne hatte die Kontrolle über ihren Wagen verloren. Sie war sofort tot. Anselm hatte ihn eine Woche später angerufen. Die Stimme brüchig, schwach, fast geisterhaft. Danach hatten sie sich nie wieder gesehen und Sassling ihm nie etwas von seiner Affäre mit Susanne erzählt. Mit einem tiefen Seufzer legte er die Fotos zurück in die Schublade und ging schlafen.
Anselm Friedemann saß selbst am Flügel. Daneben die vier ernst blickenden Streicher. Kleine Bühne, vielleicht sechzig Zuschauer. Alles sehr intim. Georg Sassling hatte sich lange im Foyer herumgedrückt, nicht wissend, ob er sich wünschen sollte, Anselm zu treffen, oder ob er darauf hoffen sollte, ihm nicht über den Weg zu laufen. Er hatte die ganze Woche mit sich gerungen. Schließlich war er doch zum Weißen Palais gefahren. Natürlich interessierte ihn Anselms Komposition. Ja, sie hatten ihn belustigt Amadeus genannt, weil er sich ihrer Meinung nach zu sehr an dem Werk des Wunderkindes aus Salzburg orientierte. Dennoch, er war ohne Zweifel der Beste von ihnen gewesen. Sassling hätte es natürlich niemals zugegeben, aber er hatte Anselm im Stillen immer für seine Gabe beneidet. Bevor dieser sich nach Susannes Tod vollkommen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, waren seinem Geist einige wirklich hervorragende Stücke entsprungen. Nie das große Orchester, daran hatte er sich noch nicht gewagt. Aber seine Romanzen für Klavier oder die zwei Streichquintetts waren von außerordentlicher Qualität. So war Sassling gespannt darauf, was ihn heute Abend erwarten würde.
Und natürlich hatte der kurze Artikel im Crescendo die Geister der Vergangenheit in ihm wieder zum Leben erweckt. Die ersten Wochen nach Anselms Anruf vor dreißig Jahren hatte er sich jeden Tag besoffen, aber so richtig. Die Erkenntnis, dass er nie wieder Susannes Stimme hören würde, ihren Körper berühren, die Leidenschaft spüren, war überwältigend schmerzhaft gewesen. Er hatte lange gebraucht, um sich von ihrem Tod zu erholen, ihn irgendwie akzeptieren, den Verlust in sein Leben integrieren zu können, als einen Schatten, eine Narbe, die gelegentlich juckte und die er dann kratzen musste. Sassling war nie verheiratet gewesen, hatte nach Susanne zwar andere Frauen in seinem Leben gehabt, aber keiner dieser Beziehungen war eine lange Dauer vergönnt gewesen. Er wäre nicht so weit gegangen, sich als beziehungsunfähig zu bezeichnen oder diesen Makel in seinem Leben gar der tragischen Beziehung mit Susanne zuzuschreiben. Andererseits, wer konnte das schon abschließend sagen? Ein Psychodoktor vielleicht, aber so etwas war nicht Sasslings Art. So war sein Leben nach Susannes Tod erst vollkommen aus der Bahn geworfen worden und danach in unsteten Bahnen verlaufen. Sein Netzwerk aus Musikern, Kulturbeauftragten, Journalisten hatte ihm immer mal wieder Jobs verschafft, dazwischen war er arbeitslos gewesen, hatte sich so durchgemogelt. Seit mehr als zehn Jahren war er Autor, was nur unwesentlich lukrativer war als die Arbeitslosigkeit, aber immerhin.
Neben seinem Interesse an Anselms neuem Werk wollte Sassling ihn sehen. Nach fast dreißig Jahren das erste Mal. Wollte wissen, ob man ihm etwas ansah. Ob man ihm Susanne ansah, ihr Fehlen.
Anselm Friedemann war immer von dünner Statur gewesen. Zarte Glieder, schmaler Körper, die Haut blass. Als er jetzt die Hände auf die Tasten legte und die ersten hohen, leisen Töne auf dem Flügel erklingen ließ, hatte Sassling das seltsame Gefühl, durch Anselm hindurchsehen zu können. Er war noch dünner geworden, der Rücken gebeugt, die grauen Haare wie Fetzen von Watte, die Haut spannte auf den Gesichtsknochen. Aber sein Spiel, sein Spiel war von einer Intensität, die man diesem Körper nicht zutrauen würde. Der langsamen Anfangsmelodie schlossen sich nach und nach die Streicher an, trugen Sassling fort, steigerten sich über Minuten bis zu einer Kadenz, für die nicht wenige Komponisten töten würden, so verdammt gut war sie. Anselm Friedemann hatte fast dreißig Jahre gebraucht, um das hier zu komponieren. Es war einfach fantastisch und Sassling war glücklich und dankbar, hier sein zu können.
Nachdem der letzte Ton verklungen war, nahm Anselm zurückhaltend, fast schüchtern den Applaus entgegen. Offensichtlich erschöpft, aber mit wachen Augen, in denen Sassling Dankbarkeit erkennen konnte. Er sah mit scheuem Blick die Reihen entlang und als er Georg Sassling bemerkte, schaute er ihn sekundenlang an, dann nickte er langsam und Sassling nickte zurück.
Er wartete im Foyer, unruhig ging er auf und ab, die Sohlen seiner Schuhe klackerten rhythmisch dazu auf dem Parkett. Sassling war nervös, fast wie früher, bevor er auf die Bühne ging. Er hatte sich zwei, drei mögliche Sätze als Eröffnung zurechtgelegt, aber als dann Anselm Friedemann vor ihm stand, Anzug, Krawatte, schlichter Hut, da war ihm alles entfallen. Anselm sah ihn freundlich aus leicht wässrigen blauen Augen an.
„Lange her, Georg“, sagte er schließlich und lächelte.
„Lange her, Anselm“, wiederholte Sassling, weil ihm nichts Besseres einfiel. Dann aber gab er sich einen Ruck: „Mir fehlen die Worte. Anselm, das war, also das ist ... einfach traumhaft.“
„Vielen Dank.“ Anselm beschrieb mit dem rechten Arm einen Bogen in der Luft. „Nicht ganz der Rahmen, den ich mir gewünscht hätte, aber es ist ein Anfang.“
„Ich bin mir sicher, da kommt noch mehr. Knut hat ja immer noch Beziehungen zu Journalisten. Könnte denen was stecken.“
„Ach ja, Knut. Wie geht es ihm?“
„Gut. Dick ist er geworden.“
Sie lachten beide. Dann entstand ein Moment der Stille, bis Anselm schließlich leise sagte: „Ich habe das Stück Susanne gewidmet. Die Erinnerung an sie hat mich bei jeder Note geleitet, fast wie ein Geist, der meine Hand geführt hat.“ Er sah Sassling sonderbar heiter an. „Ich vermisse sie immer noch. Jeden Tag. Verrückt, oder?“
Sassling schüttelte langsam den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Sie war eine tolle Frau.“ Er räusperte sich, versuchte den Knoten, der sich in seinem Hals gebildet hatte, zu lösen. „Anselm, es tut mir leid, dass ich nach ihrem Tod, also, dass ich nicht ... Ich konnte einfach nicht. Und dann sind die Jahre vorbei gewesen und irgendwie ...“ Hilflos hob er die Hände und ließ sie kraftlos wieder fallen.
„Es ist in Ordnung. Ich war lange, sehr lange, nun ja, nicht in bester Verfassung.“ Anselm lächelte schief. „Es war ein weiter Weg, aber ich habe irgendwann beschlossen, dass ich die Zeit, die ich noch habe, nutzen werde. Und dann, wer weiß, vielleicht sehe ich sie wieder.“
Sassling nickte stumm. Dann sagte er: „Da ist etwas, das ich dir sagen muss.“
Anselm Friedemann schüttelte fast unmerklich den Kopf, dann legte er Sassling die Hand auf die Schulter. Eine leichte Berührung, ohne Druck.
„Das musst du nicht“, sagte er und sah Sassling aus freundlichen Augen an. „Sie hat mir von euch erzählt. Und es tut mir leid. Georg, wir haben sie damals beide verloren.“
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