Im Geschäftsgang

Die Kaffeemaschine röchelte ihm aus dem Halbdunkel entgegen. Regentropfen schlugen gegen das Fenster und rannen in gezackten Bahnen die Scheibe hinab. Davor die Sammlung von kleinen Kakteen, ordentlich aufgereiht. Der Schreibtisch wurde in seinem Zentrum durch eine altmodische Gelenklampe erhellt. Orange, mit schwarzem Knopf oben auf dem Metallschirm, dessen Klicken beim Ein- und Ausschalten Anton Grubers Tag Struktur gab. Morgens um sieben an, nachmittags um vier wieder aus. Davor und danach das Quietschen der Gelenke. Das leise Surren, wenn sich die Federn spannten und schließlich mit einem Seufzer wieder in ihre Ausgangsposition zurückkehrten.
Dazwischen erledigte er seine Arbeit, seit fast vierzig Jahren. Hatte es bis zum stellvertretenden Referatsleiter gebracht. Und wenn Lehmann endlich in Rente ging, würde er der inneren und durch nichts zu ändernden Logik der Behörde entsprechend sein Nachfolger werden. Dann hätte er noch sechs Jahre vor sich an der Spitze des Referats, in dem er als junger Mann seine Ausbildung begonnen hatte. Nur noch zwei Jahre, dann wäre er der Mann an der Spitze von Referat 13. Innerer Dienst, die Abteilung, die alles am Laufen hielt. Sozusagen der Herzmuskel der Behörde.
Gruber gönnte sich einen Moment eitler Zufriedenheit. Es sollte ja Menschen geben, die einen Reiz darin sahen, sich mit anderen Verrückten in das Haifischbecken unsicherer Arbeitsverhältnisse zu werfen, nur um sich oder dem Nachbarn oder wem auch immer zu beweisen, wie toll sie waren, oder, noch schlimmer, um sich regelmäßig „neu zu erfinden“. Was war das alles denn gegen die beruhigende Vorhersagbarkeit der beruflichen Entwicklung an einer Behörde wie dieser? Ein schnurgerades Gleis, die Lokomotive unter Halbdampf. Seit 19 Jahren ein Einzelbüro mit Kaffeemaschine und wechselnden Kakteen auf dem Fensterbrett. Wer bitte schön konnte etwas anderes wollen? Gruber schüttelte lächelnd den Kopf, dann ließ er die Fingergelenke knacken und machte sich an sein Tagwerk.
Nachdem er sich einen Überblick über die E-Mails in seinem Postfach verschafft hatte – widerwillig wie eigentlich jeden Tag seitdem dieses sinnlose elektronische Nachrichten Hin- und Herschicken auch hier Einzug gehalten hatte (ja, er gab es gern zu, er war ein Mann des Papiers: Vermerke, Aktennotizen, handschriftliche Korrespondenz) –, wollte er sich gerade den Stapel grüner Aktenmappen auf der rechten Seite des Schreibtisches vornehmen, da bemerkte er eine ungewohnte Unruhe auf dem Gang vor seinem Büro. Ein Tuscheln und Raunen, schnelle Schritte, verdächtiges Flüstern, er meinte sogar, die geschwätzige Frau Grunert erschrocken aufschreien zu hören. Was war da los?
Plötzlich steckte der große, immer zu laute Frey seinen Kopf zur Tür hinein und sah Gruber erstaunt an. „Sie hier?“
Gruber lächelte leicht herablassend. „Wo sollte ich denn sonst sein, Herr Frey? Und überhaupt, was ist denn da draußen...“
„Haben Sie es etwa noch nicht gehört?“, unterbrach ihn Frey und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Türrahmen.
„Gehört? Was denn?“
„Der Lehmann hatte einen Autounfall.“
„Mein Gott, hoffentlich nichts Schlimmes“, erwiderte Gruber, dachte das Gegenteil und hoffte dabei, anteilnehmend genug zu klingen.
„Äh, doch. Er ist tot.“
„Oh, das ist ja ... also nein, das ist ja...“
„Schrecklich?“
„In der Tat.“ Gruber nickte ein paar Mal. „Man sollte, also wie wird es denn jetzt ...?“
„Um zehn ist Referatssitzung. Die Leitung wird ein paar Worte sprechen.“
„Das ist sehr gut. Denn es muss ja auch weitergehen, nicht wahr?“
Dietmar Frey warf ihm einen befremdlichen Blick zu, dann windete er seinen langen Körper aus der Tür und stapfte davon.
Gruber lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er war zwar von zwei Jahren ausgegangen, fühlte sich aber durchaus bereit, das Erbe von Lehmann bereits heute anzutreten, oder auch in einer Woche – wegen der Pietät. Sollte er vielleicht eine kleine Ansprache vorbereiten? Nein, er würde sich lieber überrascht geben, wenn Dr. Manfred Stauffen ihn heute als neuen Referatsleiter ernennen würde. Zunächst sicher kommissarisch. Aber alles andere waren ja letztendlich nur Formalitäten. Spätestens in einem Monat würde er mit allen Befugnissen ausgestattet sein. Kurz verweilte er bei diesem Gedanken, dann gab er sich einen Ruck. Er hatte schließlich zu arbeiten. Die grünen Mappen. Von rechts nehmen, durcharbeiten und dann auf den linken, stetig größer werdenden Stapel legen. Herrlich!

Der große Versammlungsraum – Meetingraum, wie er jetzt hieß – war schon halbvoll. Alle Referatsleiter und deren Stellvertreter, Müller von der IT, der dicke Gerber vom Personalrat waren da. Ein paar der Vorzimmerdamen (die man seit kurzem als Teamassistentinnen bezeichnete) waren auch gekommen. Warum das denn, bitteschön? Die hätte Gruber jedenfalls nicht eingeladen, da sprach die Hierarchie dann doch klar dagegen. Nun gut, hier würde sich bald sowieso einiges ändern. Bescheiden setzte sich Gruber in die letzte Reihe und versuchte, eine dem Anlass entsprechende Miene aufzusetzen.
Dr. Stauffen betrat den Raum, baute sich vor der versammelten Mannschaft auf, nickte bedächtig. Dann informierte er darüber, was sich unter den Anwesenden bereits herumgesprochen hatte, selbst Gruber wusste ja schon Bescheid. LKW von links, Vorfahrt übersehen, verstarb noch am Unfallort. Alle sollten Herrn Lehmann als korrekten, arbeitsamen, bei den ihm unterstellten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen beliebten, der Behörde und dem übergeordneten Ministerium stets loyal dienendem Referatsleiter in Erinnerung behalten. Und so weiter. Gruber saß mit im Schoß gefalteten Händen auf seinem Stuhl und nickte an den geeigneten Stellen. Als der Behördenleiter sich dann endlich bis zu dem eigentlich interessanten Punkt vorgearbeitet hatte, nämlich Lehmanns Nachfolge, senkte Gruber demütig den Blick.
„Auch wenn das jetzt eigentlich nicht der richtige Augenblick ist für Personalthemen, ist es andererseits natürlich von großer Wichtigkeit, für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Referat 13, und für das gesamte Haus, die Nachfolge unseres überaus geschätzten Kollegen Gerd Lehmann so schnell und reibungslos wie möglich einzuleiten.“ Er bedachte Gruber mit einem jovialen Lächeln. „Und wer, wenn nicht Herr Gruber, wäre wohl dafür der beste, ja der logische Kandidat?“
Anton Gruber spürte die auf ihn gerichteten Blicke. Langsam hob er den Kopf, machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen und nickte dann wieder. Dieses Mal versuchte er, einen Hauch Ehrfurcht in die Geste zu legen. Natürlich war er die logische Wahl, das brauchte doch wohl nicht betont zu werden. In solchen Momenten zeigte sich die akademische Arroganz des verehrten Herrn Dr. Stauffen immer besonders, fand Gruber. Hielt sich für was Besseres, nur weil er studiert hatte.
Kurzer, verhaltener Applaus, dann löste sich die Versammlung wieder auf. Gruber erhob sich und ging nach vorne zu Stauffen, bei dem noch Thomas Gerber stand und leise mit ihm sprach. Was hatten die beiden denn zu tuscheln?
„Herr Gruber, das war für uns alle ein Schock“, sagte Stauffen und schüttelte ihm kurz die Hand.
„Einfach schrecklich“, bestätigte Gruber. „Wir sollten seiner Frau, also das Haus sollte seiner Frau ... vielleicht Blumen? Das muss ja vor allem für sie, ähm ...“
Stauffen und Gerber wechselten einen irritierten Blick. „Frau Lehmann ist vor fünf Jahren gestorben. Die gesamte Abteilung hat doch damals gesammelt“, sagte Manfred Stauffen.
„Ach ja, richtig“, sagte Gruber, auch wenn er sich so spontan nicht daran erinnern konnte. Herrgott, man konnte ja auch nicht alles im Kopf haben, die Arbeit ging schließlich vor.
„Nun denn, dann belassen wir es zunächst bei der kommissarischen Leitung, in Ordnung?“ Stauffen war schon halb an Gruber vorbei. „Alles andere dann so bald wie möglich.“
„Natürlich, Herr Dr. Stauffen. Vielen Dank für das Vertrauen. Ich werde mich würdig erweisen.“
„Sicher.“ Damit war Stauffen weg. Der dicke Gerber nickte ihm kurz zu und verließ dann ohne ein weiteres Wort den Raum. Sollte er doch, den hatte Gruber eh gefressen. Der kannte doch nichts anderes als Blockade, keinen Sinn für personalspezifische Notwendigkeiten. Aber das wird sich auch schon noch ändern. Wenn er erst mal vollständig inthronisierter Referatsleiter war, dann würde er entsprechend darauf hin arbeiten, den Personalrat in seine Schranken zu verweisen.

Anton Gruber hatte sich gestattet, seine Arbeit zu unterbrechen, um eine Liste mit zehn Punkten zu erstellen, die er als Referatsleiter prioritär umsetzen würde. Gerade nickte er zufrieden lächelnd, als es zaghaft an der Tür klopfte.
„Herein.“
Die Sekretärin des verstorbenen Referatsleiters Lehmann betrat mit unsicheren Schritten den Raum und blieb einen Meter vor seinem Schreibtisch stehen, die Hände vor dem molligen Unterleib ineinander verschränkt. Gruber schenkte ihr ein kurzes, professionelles Lächeln. Er hatte sich schon gefragt, wann diese schwatzhafte Person aufkreuzen würde. Bestimmt kam jetzt die herzzerreißende Geschichte der alleinerziehenden Mutter.
„Sie wünschen, Frau Kilian?“
„Ja also, ich hoffe, ich störe Sie nicht?“
„Nun ja, ich habe natürlich sehr viel zu tun. Aber wenn Sie sich kurz fassen...“
„Ja klar. Schlimm das mit Herrn Lehmann. Er war ja wirklich ein toller Vorgesetzter. Einfach schrecklich.“
„Wir sind alle erschüttert“, sagte Gruber. Er trommelte leise mit den Fingerspitzen auf die Holzplatte.
„So unerwartet das Ganze. Da Sie ja jetzt der neue Referatsleiter sind...“
„Kommissarisch“, korrigierte Gruber mit erhobenem Zeigefinger.
„Ähm, aber Sie sind doch jetzt mein Vorgesetzter, oder?“
Gruber bedachte sie mit einem blasierten Blick. Diese Frau stahl ihm kostbare Zeit. Seine Liste, die Postmappen, tausend Dinge zu erledigen. „Selbstverständlich.“
„Gut, also der Herr Lehmann, der hat mich ja Donnerstag immer schon um eins gehen lassen. Mein Sohn hat da früher Schulschluss und ich würde ihn ungern allein...“
„Frau Kilian“, sagte Gruber mit strenger Stimme. „Mir ist bewusst, dass Herr Lehmann, bei allen Qualitäten, die er zweifellos hatte, gewisse Dinge, nun ja, etwas hat schleifen lassen. Dazu gehörte meiner Meinung nach auch die Personalführung.“ Er ließ seine Worte kurz wirken. Frau Kilian sah ihn fragend an. „Ich bin allerdings davon überzeugt, dass dieses Referat nur zu alter Stärke zurückfinden kann, wenn wir hier alle an einem Strang ziehen und vor allem, wenn jeder hier alles gibt. Daraus erwächst ein Höchstmaß an Effizienz, was letztendlich für das gesamte Haus überlebenswichtig ist. Frau Kilian, dies ist der Innere Dienst. Denken Sie einmal über diese beiden Worte nach, über deren Bedeutung. Ich vergleiche unsere Arbeit immer mit dem, was im menschlichen Körper das Herz vollbringt. Ohne uns wären die anderen Referate quasi arbeitsunfähig, ach was: tot. Und damit auch das Ministerium. Liebe Frau Kilian, sind Sie sich dessen bewusst?“
„Äh, ich denke schon.“
„Sehr schön, dann verstehen wir uns ja.“
Frau Kilian trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Und was bedeutet das jetzt, ich meine wegen meinem Sohn?“
Gruber war kurz versucht, sie über die Verwendung des falschen grammatikalischen Falles in Kenntnis zu setzen, ließ es dann aber bleiben.
„Ich dachte eigentlich, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Dann soll er eben in den Hort gehen oder zu Freunden. Was weiß ich. Es ist auch nicht meine Aufgabe, hier eine Lösung für ihr Problem zu finden.“
„Aber Herr Lehmann...“, versuchte sie es noch einmal.
„Wie gesagt, das Referat wird sich neu aufstellen müssen. Ich würde Ihnen empfehlen, diese Tatsache zu akzeptieren.“
„Und wenn nicht?“ Sah Gruber da ein kämpferisches Blitzen in ihren Augen?
„Dann, Frau Kilian“, er beugte sich ein paar Zentimeter nach vorne, „wird es hier schwer werden für Sie.“
„Oder ich gehe zum Personalrat.“ Ein Schmollen um ihre dünnen Lippen.
Gruber zuckte mit den Schultern. „Dieser Weg steht Ihnen selbstverständlich offen. Ich möchte aber zu bedenken geben, dass ich eines noch mehr verabscheue als Faulheit. Und das ist fehlende Loyalität. Eine Umsetzung wäre dann das Mittel der Wahl, denke ich. Einen schönen Tag noch Frau Kilian.“

Kakteen hatten eine beruhigende Wirkung auf Anton Gruber. Dieses Beharrliche, Genügsame. Schroff waren sie, das schon. Sie gaben ihre Geheimnisse nur zögerlich preis. Aber hatte man ihre Schönheit erst einmal verstanden, dann konnte man sich ihr nicht entziehen. Wenn er mit der Gießkanne die Reihe entlangging und hier und dort eine kleine Menge Wasser auf die spezielle Kaktuserde gab, dann geschah es nicht selten, dass er sich mit den stacheligen Gewächsen verglich. Ja, er und seine Kakteen hatten in der Tat einiges gemeinsam. Und nicht zuletzt wurden sie beide unterschätzt.
Die Sitzung der Referatsleiter heute hatte es mal wieder gezeigt. Niemand, der überhebliche und dabei doch so blinde Dr. Stauffen eingeschlossen, hatte die Tragweite, ach was, die Brillanz seines Zehn-Punkte-Plans erkannt. Abgewimmelt hatten sie ihn. Dr. Stauffen hatte dabei eine Handbewegung gemacht, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen wollen. Diese Trottel. Wollten oder konnten sie nicht verstehen, in welch prekärem Zustand sich sein Referat, mehr noch, die gesamte Behörde befand? Wie wollten sie denn wieder in die Spur kommen, wie ihrem Auftrag gerecht werden, wie das Haus zu alter Größe führen? Bestimmt nicht, indem solche Nichtigkeiten wie die Belange der übergewichtigen Frau Kilian größeren Stellenwert bekamen als seine genialen Überlegungen. Entschuldigen solle er sich bei ihr. Unfassbar.
Gruber stellte die Gießkanne ab und setzte sich an seinen Schreibtisch, versuchte Halt in den grünen Postmappen zu finden. Die klare Struktur des Geschäftsgangs, von 1 über 13 und 15 zurück nach 1, die rechte Seite gespickt mit den ihm so vertrauten Paraphen, hatte es noch immer geschafft, dass er sich beruhigte, sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Nichts anderes auf der Welt hatte diese Wirkung auf ihn. Und schon allein deswegen, so dachte er fast grimmig, hatte er die Referatsleitung verdient. Er war eins mit der Behörde, untrennbar mit ihr verwachsen.

Die Tür öffnete sich, ohne dass zuvor angeklopft wurde. Konrad Reimann, stellvertretender Leiter von Referat 11 (Personal), jung, eloquent, stets in teuer aussehende Anzüge gekleidet, mit perfekt sitzendem Krawattenknoten und ebenso perfekt sitzender Gelfrisur, immer ein Lächeln auf den Lippen, natürlich bei allen beliebt, stand in der Tür. Gruber hasste diesen Typen.
»Herr Reimann, ich habe das Klopfen gar nicht gehört.«
»Hallo Herr Gruber, wollte mal bei Ihnen reinschnuppern. Wie Sie sich so schlagen. Ist ja jetzt sicher ein Haufen an Mehrarbeit hier, was?«
»Danke, ich komme klar. Arbeit war mir noch nie eine Belastung. Im Gegenteil.« Gruber versuchte seinen Ärger über das unangekündigte Eintreten in sein Büro herunterzuschlucken. Es gelang ihm nur teilweise.
Konrad Reimann lachte affektiert. »Sie sind mir einer.«
»Was führt Sie hier herunter in den dritten, Herr Reimann?«
»Ach, nichts Bestimmtes.« Reimann blickte sich im Raum um, wandelte mit langsamen Schritten zum Fenster, dann zum Regal mit der Kaffeemaschine. Schaute hierhin und dorthin, ganz so, als wäre Gruber gar nicht anwesend. Was für eine Unverschämtheit.
»Suchen Sie etwas?«, fragte Gruber gereizt.
»Nein, nein. Das heißt, vielleicht. Wie ist denn der WLAN-Empfang hier?«
»Der WLAN-Empfang?«
»Genau.« Reimann strahlte ihn an. Breitbeinig stand er im Raum, die Hände in die Hüften gestemmt. Gruber hasste ihn mit jeder Sekunde mehr.
»Keine Ahnung«, sagte er.
»Verstehe. Na, macht ja nichts.« Reimann schob nachdenklich die Unterlippe vor, rieb sich das Kinn, dann sah er Gruber wieder an. »Haben Sie Lust auf einen Kaffee? Wir könnten ein wenig plaudern über die Erfahrungen als Referatsleiter.«
Gruber sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Soweit ich weiß, sind Sie stellvertretender Referatsleiter. Und ich bin zur kommissarischen Leitung ernannt worden.« Nach einem kurzen Augenblick schob er ein »Noch« nach. »Außerdem, Herr Reimann, habe ich wirklich viel zu tun.« Gruber machte eine ausladende Geste von links nach rechts über seinen Schreibtisch.
»Sicher, verstehe. Dann vielleicht ein anderes Mal?«
»Vielleicht«, erwiderte Gruber mit wenig Überzeugung.
»Na dann.« In der Tür drehte sich Konrad Reimann noch einmal um. »Wirklich ein schönes Büro. Ich meine, grundsätzlich.« Er zwinkerte Gruber zu und verschwand.
Was für ein unangenehmer Zeitgenosse, dachte Gruber und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.

Das Telefon klingelte. Die Nummer auf dem Display kündigte das Vorzimmer der Leitung an. Das wurde aber auch Zeit, dachte Gruber und riss den Hörer nach dem zweiten Klingeln an sein Ohr.
„Gruber, Innerer Dienst.“
„Guten Tag, Herr Gruber. Kranold-Jungmann aus dem Leitungsbüro hier.“ Eine dieser Doppelnamen-Frauen aus der Stabsstelle. Gruber hatte kein Bild von Frau Kranold-Jungmann vor sich, stellte sie sich aber als missmutige, dünne Frau mit Kurzhaarschnitt vor. „Herr Dr. Stauffen möchte Sie gern in seinem Büro sehen. Geht es in einer Stunde?“
„Natürlich. Ich kann mir Zeit freischaufeln“, sagte Gruber.
„Vielen Dank. Dann trage ich den Termin so ein.“
Anton Gruber legte auf. Dieses Treffen konnte nur eines bedeuten: Die Leitung würde ihn heute zum Referatsleiter benennen. Und das nach nur acht Tagen. Ziemlich schnell, aber gut, es lag ja auch eigentlich alles auf der Hand. Warum da noch länger zögern und die Arbeitsfähigkeit des Referats weiter unnötig gefährden?
Gruber zog seine Liste aus der Schublade, die er für sich Wegweiser in die Zukunft getauft hatte und machte sich daran, die konkreten Schritte für die Umsetzung der kurzfristigen Ziele niederzuschreiben. Fünfundvierzig Minuten später streckte er sich, zog sein braunes Sakko über und machte sich auf den Weg in den siebten Stock.
„Er erwartet Sie“, begrüßte ihn Frau Kranold-Jungmann im Vorzimmer von Dr. Stauffen. Entgegen seiner Vorstellung war sie eine überaus gutaussehende junge Dame mit langen rotbraunen Haaren. Dennoch, diese unsäglichen Doppelnamen waren Gruber ein Graus. Seine Frau hatte selbstverständlich ihren Mädchennamen aufgegeben. Was war auch schon dabei?
„Danke.“
Gruber klopfte kurz an und trat dann in das Büro des Behördenleiters. Auf der Schwelle blieb er verdutzt stehen. In einem der mit dunkelblauem Stoff bezogenen Sessel der kleinen Sitzgruppe in einer Ecke des großzügigen Raums saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und breitem Lächeln Konrad Reimann. Auch Dr. Stauffen schien bester Laune zu sein, er saß locker auf der Kante seines Schreibtischs und grinste, als hätte er gerade einen nicht jugendfreien Witz erzählt.
„Ach, der Herr Gruber. Unser bester Mann in Referat 13.“ Stauffen winkte ihn herein und lud ihn mit einer Geste ein, neben Herrn Reimann Platz zu nehmen.
„Herr Dr. Stauffen, vielen Dank für den Termin“, sagte Gruber und versuchte, ein wenig Pathos in seine Stimme zu legen. „Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht.“
Stauffen rieb die Handflächen aneinander. „Stimmt schon. Aber wir wollen ja, dass es weitergeht, nicht wahr? Das wäre sicher auch im Sinne unseres verehrten Kollegen Gerd Lehmann.“
„Natürlich.“
„Sehen Sie, ich war mir sicher, dass Sie dafür Verständnis haben würden. Und warum? Weil niemandem die volle Funktionsfähigkeit des Referats so am Herzen liegt wie Ihnen. Das weiß doch hier jeder.“
„Nun ja...“ Gruber senkte bescheiden den Blick. „Es ist mir natürlich wichtig, dass...“
„Und deshalb“, unterbrach in Dr. Stauffen, „haben wir, also habe ich, beschlossen, die Leitung des Referats 13 mit Wirkung ab morgen in die Hände von Herrn Reimann zu legen. Sie bleiben selbstverständlich stellvertretender Referatsleiter.“
Gruber sah von Dr. Stauffen (erwartungsvolles Lächeln) zu Reimann (angedeutetes Schmunzeln) und wieder zurück zum Behördenleiter. „Wie bitte?“
„Ich kann verstehen, wenn das jetzt etwas, nun ja, unerwartet kommt.“ Stauffens Lächeln bekam eine leicht gequälte Note. Ohne Frage gespielt, da war sich Gruber sicher. „Aber ich bin mir sicher, dass Sie und Herr Reimann hervorragend zusammenarbeiten werden. Niemand kennt das Referat so wie Sie. Ich sehe Sie als eine Art ... ja, Techniker. Ein Techniker im Maschinenraum eines Ozeandampfers. Absolut wichtige Funktion, da stimmen Sie mir sicher zu.“
„Techniker? Und er ist dann also der Kapitän?“
Reimann erhob sich energisch, baute sich vor Gruber auf und hielt ihm die makellos gepflegte Hand hin.
„Herr Gruber, ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. Ich bin mir sicher, dass ich von Ihrer langjährigen Erfahrung nur profitieren kann.“
Gruber ergriff zögerlich die ihm angebotene Hand, immer noch im Sessel sitzend, und bemühte sich um ein Lächeln. „Ja dann“, war alles, was er sagen konnte.
Dr. Stauffen klatschte in die Hände. „Damit wäre das ja geklärt. Alles weitere überlassen ich dann Ihnen beiden. Herr Reimann, wenn Sie bitte noch bleiben würden.“
Gruber erhob sich schwerfällig, ihm war leicht schwindlig. Mit langsamen Schritten verließ er das Leitungsbüro.

Die Kaffeemaschine röchelte. Vor dem Fenster standen die Kakteen, ordentlich in einer Reihe. Sein neues Büro war deutlich kleiner und besaß nur ein Fenster, so hatte Gruber mit einem Teil seiner Kakteensammlung auf den grauen Aktenschrank ausweichen müssen. Er zog sich den Schirm der Schreibtischlampe heran, hörte das vertraute Quietschen. In der ersten Postmappe hatte Reimann mit offensichtlich hastig hingekritzelten Buchstaben Grubers Bearbeiternummer und den Auftrag »Bitte um Bearbeitung« vermerkt. Den Inhalt hatte er wahrscheinlich bestenfalls überflogen. Seit Reimann vor drei Wochen die Referatsleitung übernommen hatte, landeten fast alle Vorgänge mit derselben Auszeichnung auf Grubers Tisch. Er bearbeitete den Vorgang gewissenhaft – natürlich tat er das –, zeichnete und legte die Akte links neben sich auf den Ausgangsstapel.
Seine Zeit würde kommen, dachte er. Nicht zum ersten Mal seit dem Gespräch mit Dr. Stauffen und Konrad Reimann. Typen wie der Reimann machten unweigerlich irgendwann Fehler. Meist aus Ungeduld. Wollten Dinge auf dem kleinen Dienstweg regeln. Und dann würde er bereitstehen. Dann wäre die innere Logik der Behörde wiederhergestellt.
Gruber schloss den nächsten Vorgang ab und übergab ihn dem Geschäftsgang.


© Copyright Oliver Riede


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