Freundschaft

Das Licht der Scheinwerfer fraß sich durch das Ende der Nacht. Wie eine Armee stummer Soldaten zogen die Bäume auf beiden Seiten des enger werdenden Wegs in den Lichtkegeln an ihnen vorbei. Die Beleuchtung des Armaturenbretts tauchte das Innere des Wagens in ein schwaches, blaues Licht. Adam sah zur Seite, neben sich auf der Rückbank saß breitbeinig Viktor, wie immer Kaugummi kauend, und wischte mit dem Daumen unregelmäßige Bahnen auf das Display seines Telefons. Ab und zu fluchte er leise. Das zerfurchte, von tiefen Falten durchzogene Gesicht sah gespenstisch aus im kalten Licht des Handys. Vorn saß Dominik, die haarigen Pranken lagen ruhig auf dem Lenkrad. Dominik war eine Urgewalt, ein Koloss, der nur aus Muskeln zu bestehen schien. Muskeln und Haaren. Er war dermaßen behaart und besaß dazu noch diese Wülste über den Augen, dass Adam und Viktor ihn den Neandertaler nannten. Natürlich nur, wenn Dominik sie nicht hören konnte.
Viktor motzte wieder.
»Was spielst du da eigentlich?«, fragte Adam.
»Tetris.«
»Tetris, ehrlich?« Adam musste grinsen.
»Gut für das Gehirn«, sagte Viktor ohne aufzusehen.
»Wenn du meinst.«
Das Auto wurde abgebremst und und hielt an. Der Neandertaler schaltete den Motor aus. Sie waren da. Viktor schob das Telefon in die Innentasche seines Sakkos. Nach einem Moment des Schweigens, in dem nur das leise Blasen des Kühlerventilators die Stille störte, sagte er: »Na dann.«
»Na dann«, wiederholte Adam leise.
Sie stiegen aus, es war noch kühl, Adam zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.
»Da lang.« Viktor wies mit dem Finger auf die Baumreihen und marschierte los. Adam folgte ihm, hinter ihm stampfte Dominik.
Das feuchte Laub schmatzte bei jedem Schritt, Zweige zerbrachen unter den Sohlen ihrer Schuhe. Sie bahnten sich im fahlen Licht der ersten Sonnenstrahlen einen Weg durch den Wald. Der Boden atmete würzige Feuchtigkeit aus. Als sie auf eine Lichtung traten, strahlte das Sonnenlicht durch eine Lücke im dichten Gewirr von Ästen und Laub, brach sich in der Galaxie von in der Luft schwebenden Teilchen und zerstob dabei in ein bizarres Muster aus Linien und Formen. Viktor verharrte in der Bewegung und sah empor.
»Weißt du, woran mich das gerade erinnert?«, fragte er.
»Nein.«
»Als kleiner Junge war ich oft bei meiner Großmutter. Meine Eltern mussten arbeiten. Vielleicht waren sie auch besoffen. Jedenfalls hatte meine Großmutter einen Plattenspieler. Sie liebte Klassik, musst du wissen. Ich saß dann auf dem Boden und habe mir die Umschläge der Schallplatten angesehen.«
»Cover.«
»Was?«
»Die Umschläge nennt man Cover.«
»Cover, wie? Interessant. Jedenfalls, auf einem dieser Umschläge war ein Bild, eine Malerei oder so. Ein Waldmotiv, irgendwie geheimnisvoll, Sonnenstrahlen blitzten durch die Kronen der Bäume. Ich war wie gebannt. Johannes Brahms, erklärte mir meine Großmutter, ein deutscher Komponist. Laut war die Musik, beängstigend. Aber der Wald, der blieb mir in Erinnerung. Schön musste dieses Deutschland sein, dachte ich. Nicht wie mein Dorf in der Ukraine. Die Luft staubig von den Fabriken. Immer dieser Gestank. Das hier«, sein Arm beschrieb einen Halbkreis, »sieht fast so aus wie auf dem – Cover.« Er lächelte kurz, dann zog er die Mundwinkel herunter. »Nun, das Deutschland, das ich kennengelernt habe, war dann nicht so schön, wie ich es mir vorgestellt hatte.« Er dreht sich zu Adam. »Aber großartige Komponisten habt ihr trotzdem. Brahms, Schumann, Beethoven.«
»Hey, ihr habt dafür Rachmaninoff. Und Tschaikowski.«
»Das waren Russen.«
»Russen, Ukrainer. Ist doch alles dasselbe«, sagte Adam grinsend.
»Vorsicht, mein Freund.« Viktor streckte gespielt empört die Faust in die Luft.
»Ich wusste allerdings nicht, dass du so romantisch veranlagt bist.«
»Das liegt uns Russen eben im Blut.«
»Ich dachte, du bist Ukrainer.«
»Ist doch alles dasselbe«, entgegnete Viktor achselzuckend und lächelte verschmitzt. Dann deutete er auf einen am Boden liegenden, mit Moos bewachsenen Baumstamm. »Komm, lass uns kurz hinsetzen.«
»Und er?« Adam zeigte mit dem Daumen hinter sich.
»Der kann sich mal die Umgebung anschauen. Nicht wahr, Dominik?«
Der Neandertaler bedachte Adam mit einem finsteren Blick, dann trampelte er über die Lichtung und lehnte sich an den knorrigen Stamm einer Eiche.
Viktor und Adam blickten schweigend in den Himmel. Die Sonne stand jetzt schon fast über den Bäumen. Leise raschelte der Wind in den Blättern, Vögel zwitscherten.
»Ich weiß noch, wie ich dich das erste Mal gesehen habe.« Viktor lachte kurz auf.
»Das war in Yuris Büro«, sagte Adam.
»Ja. Du hattest dich beim Kartenspiel in einem seiner Läden etwas übernommen.«
»Zwanzigtausend, glaube ich.«
»Fünfundzwanzig.«
»Alles geplant.«
»Ja, aber das wusste ich da noch nicht. Ich dachte nur, das wird nicht gut enden. Und dann erzählst du Yuri etwas von Wahrscheinlichkeiten, Kartenzählen und diesen ganzen Scheiß. Kein Wort habe ich verstanden.«
»Yuri auch nicht.«
Viktor begann lauthals zu lachen und Adam stimmte mit ein.
»Sein Gesicht, als du ihm sagst, du könntest ihm zu mehr Geld verhelfen. Seine - ich zitiere - zweitklassigen sibirischen Etablissements ins 21. Jahrhundert holen. Unbezahlbar«, gluckste Viktor. »Ich war mir sicher, der würde dich abknallen.«
»Ja, das habe ich auch gedacht. Hat er aber nicht.«
»Nein, das hat er nicht. Der Boss hat Köpfchen, weißt du. Auch wenn man das oft nicht glauben kann. Fragt dich also nach deinem Namen. Adam, sagst du. Und er grinst sein typisches Yuri-Grinsen und sagt, ach wie der deutsche Rechenkünstler.«
»Und dann haben wir Wodka getrunken. Davon war mir noch drei Tage lang schlecht.«
Viktor lachte und machte eine Du-weißt-doch-wie-das-ist-Geste mit den Händen, dann wurde er ernst, musterte Adam mit seinen grauen Augen. »Ich habe dich das nie gefragt, Adam. Warum das alles? Warum das Risiko? Du hättest alles erreichen können im Leben. Ich meine, du bist clever, kannst quatschen. Hättest studieren können, oder so. Warum hast du dich mit einem Haufen verrückter Russen eingelassen?«
Adam überlegte kurz, scharrte mit der Schuhspitze in der feuchten Erde, zuckte mit den Schultern. »Abenteuerlust, nehme ich an. Und hey, Yuri hat es wohl kaum bereut.«
»Das stimmt. Deine Fähigkeiten haben den, nun ja, Umsatz ziemlich erhöht.«
»Um mehr als dreißig Prozent, wenn ich das richtig überschlagen habe.«
»Kann sein.«
Viktor legte einen Arm auf Adams Schultern, drückte ihn sanft an sich. »Das waren wirklich gute Jahre, mein Freund.«
»Ja, das waren sie.«
»Du warst ein guter Schüler.«
»Und du der beste Lehrer, den man sich wünschen kann.«
»Man, wir hatten eine Menge Spaß zusammen.« Viktors Augen blitzten auf. »Die Partys. Die Mädchen.«
»Kann mich kaum noch an die Hälfte von allem erinnern«, sagte Adam grinsend.
»Dann war es gut.« Viktor lachte, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche, klopfte eine heraus und hielt sie Adam hin, der sie sich zwischen die Lippen steckte. Viktor gab ihm Feuer, steckte sich dann selbst eine an.
»Ja, wir haben nichts anbrennen lassen. Aber dann hast du Daria kennengelernt. Ein prima Mädchen.«
»Das ist sie«, sagte Adam, stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die beste von allen.«
»Ich sag dir, Yuri war alles andere als glücklich, dass du was mit seiner Cousine anfängst.«
»Ach komm.«
»Oh doch, gekocht hat der. Jedem anderen hätte er wahrscheinlich die Fresse poliert. Oder Schlimmeres. Aber bei dir hat er sich zusammengerissen. Du warst zu wichtig.« Viktors Augenbrauen zuckten. »Damals«, ergänzte er leise.
Sie schwiegen wieder, blickten vor sich auf den Waldboden, tippten die Asche von den Zigaretten.
Dominik rief mit vor Ungeduld zorniger Stimme von seinem Beobachtungsposten: »Viktor, dawaj!«
Ohne sich umzudrehen, schnauzte Viktor zurück: »Halt dein Maul, Dominik! Ich unterhalte mich mit meinem Freund.« Im letzten Wort schwang Sanftheit mit. Der Neandertaler grummelte kurz, blieb aber unter der Eiche stehen.
»Warum musste das so schief gehen?« Viktor warf Adam einen Blick zu. »Du hattest doch ein gutes Leben, mein Freund.«
»Ich war es nicht. Und das weißt du.«
Viktor trat die abgebrannte Zigarette auf dem Boden aus, strich sich das graue Haar nach hinten. »Keine Ahnung, was ich denken soll. Das Auto, Darias Klunker. Yuri meint ...«
»Scheiß auf Yuri«, unterbrach ihn Adam und wollte aufspringen, aber Viktor zog ihn an der Schulter wieder herunter.
»Bleib sitzen. Und keine hektischen Bewegungen.«
Er spähte unauffällig in Dominiks Richtung. Der hatte sein Sakko aufgeknöpft, die rechte Hand an der Brust, mit zusammengekniffenen Augen spähte er zu ihnen herüber.
»Du weißt, wie nervös der Neandertaler ist«, raunte Viktor.
Adam nickte.
»Wenn du Yuri einfach das Geld wiedergeben würdest. Ich könnte bestimmt ein gutes Wort für dich einlegen. Er vertraut mir. Denk doch an Daria. Wir könnten ...«
»Das war alles von meinem Anteil bezahlt. Ich habe nie eigene Kasse gemacht. Wie auch?« Adam rieb sich die Augen, ein Sonnenstrahl ließ sein kurzgeschnittenes, braunes Haar glänzen.
Viktor zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Siehst du.«
Viktor seufzte. »Und jetzt?«, fragte er. »Ich meine, du weißt, warum wir hier sind.«
»Ja.«
»Natürlich weißt du es. Scheiße. So soll es also enden?« Viktor erhob sich ächzend, klopfte sich das Moos vom Hosenboden und gab Dominik ein Zeichen. Der kam schwerfällig zu ihnen, grinste Adam dümmlich an und zog eine Pistole aus der Innentasche seines Sakkos. Das Metall glänzte fast obszön.
»Na dann, Arschloch,« sagte Dominik mit tiefer Stimme. »Du weißt ja, wie das läuft. Umdrehen, auf die Knie und an etwas Schönes denken.«
Adam blickte von Dominik zu Viktor, nickte bedächtig. »Du kümmerst dich um Daria?«
»Versprochen«, sagte Viktor mit ernstem Blick.
»Um die wird sich schon Yuri kümmern.« Dominik stieß ein kehliges Lachen aus.
»Schnauze.« Viktors Stimme war nicht laut, aber voller Autorität, so dass Dominik sofort verstummte.
Adam nickte wieder, atmete tief ein, dann drehte er sich langsam um und ließ sich auf die Knie nieder.
»Das mache ich«, hörte er Viktors Stimme hinter sich. »Das bin ich ihm schuldig.«
»Aber Yuri wollte ... okay, okay. Reg dich ab.«
Adam schloss die Augen. Er hatte keine Angst vor dem Tod als Zustand. Aber er hatte eine verfluchte Angst vor dem Moment des Sterbens. Vor diesem Bruchteil einer Sekunde, in dem er wissen würde, dass er alles, was er kannte, jeden Menschen, der ihm wichtig war, zurücklassen würde. Unwiderruflich.
Er begann zu zittern. Und ärgerte sich darüber, konnte schon den Neandertaler herumerzählen hören, was für ein Weichei er doch gewesen wäre. Dann spürte er das kalte, erbarmungslose Metall an seinem Hinterkopf. Er rief sich Darias Gesicht in Erinnerung, wollte mit ihrem Bild vor Augen sterben. Ihr Lachen, bei dem sich diese niedlichen Grübchen auf den Wangen bildeten, die braunen Augen mit den winzigen bernsteinfarbenen Einsprengseln, die robusten Wangenknochen, die ihr etwas leicht Unnahbares gaben.
Der Schuss war ohrenbetäubend. Adam wartete auf eine Reaktion seines Körpers, auf den Schmerz, darauf, dass er mit dem Gesicht in das nasse Laub fallen würde. Nichts davon geschah. Warum kniete er noch immer mit geschlossenen Augen?
»Du kannst wieder hochkommen.« Jemand griff ihm unter den Arm, zerrte daran. »Na los, mein Freund.«
Adam öffnete die Augen, blickte sich um. Derselbe Wald. Kein grelles Licht. Keine Engel. Keine Hölle.
Nur Viktor mit sorgenvollem Blick. Neben ihm lag der Neandertaler, auf dem weißen Hemd breitete sich ein roter Blutfleck aus.


© Copyright Oliver Riede


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