Der Junge und das Mädchen

Die Ebene, durch die sie wanderten, hatte sich seit zwei Tagen nicht verändert. Der sandige Boden war bedeckt von struppigem Gras, das ihnen die Füße zerstach. Nur selten erhob sich ein verkrüppelter Baum aus dem im ewigen Wind raschelnden Gestrüpp. Die Sonne war als ein schwaches Licht von undefinierbarer Form am bleifarbenen Himmel zu sehen. Loran und seine Schwester Myla orientierten sich an diesem Licht, um nicht von ihrem Weg abzukommen.
„Beeil dich. Wir müssen weiter“, drängte Loran und beobachtete mit einem Stirnrunzeln den Horizont hinter ihnen. Myla kniete an einem schmalen Wasserlauf und trank aus der hohlen Hand. Das Wasser war rostrot und kalt.
„Ich weiß.“ Sie massierte ihre schmerzenden Füße und ächzte, als sie sich erhob, klopfte sich den Staub von der zerschlissenen Hose und schweigend setzten sie ihren Weg fort. Ihr Marsch hatte sie aus den Namenlosen Bergen herausgeführt, durch eine hügelige Landschaft und schließlich in diese Ebene, in der es nichts zu geben schien als Gras, Sand und Wind.
Sobald die Sonne untergegangen war, würde es wieder kalt werden und der Wind noch unerbittlicher über die Ebene fegen. Loran hatte eine Decke aus grobem Stoff in seinem Rucksack, in die sie sich wickeln würden wie in ein Totentuch und sich gegenseitig so gut es ging wärmen. Nur, wie lange könnten sie den Marsch noch durchhalten? Und was käme nach der Ebene? Gab es da überhaupt noch etwas? Oder jemanden? Das erschien ihm alles andere als sicher. Aber was konnten sie anderes tun als laufen? Immer geradeaus. Laufen und hoffen.
Seine Schwester riss ihn aus seinen wiederkehrenden Gedanken: „Denkst du, es geht ihnen gut?“
„Ich weiß es nicht. Es ist lange her.“
„Ja.“ Eine Träne hinterließ eine glänzende Spur auf der staubbedeckten Wange des Mädchens.
„Und wir haben nichts von ihnen gehört.“ Er legte Myla einen Arm auf die Schulter. „Aber vielleicht haben sie ja einen Weg gefunden“, versuchte Loran ihr Hoffnung zu geben, auch wenn er selbst keine in sich trug. Dafür war die Veränderung zu mächtig gewesen. Er hatte sie zwar nur aus der Ferne gesehen, aber dafür gespürt. Lange vor den anderen. Und dann musste alles so schnell gehen.

***​


Während der ersten Tage ihrer Flucht hatte Myla fast ohne Unterbrechung geweint. Es war an ihm gewesen sie anzutreiben, sie daran zu erinnern, dass sie sich beeilen mussten. Seine Schwester wurde immer apathischer in dem Schmerz, ihr Leben hinter sich gelassen zu haben, alles, was sie kannte, alles, was sie liebte. Aber es war notwendig gewesen, sie hatten keine Zeit mehr gehabt. Als sie die Kuppe eines Hügels bestiegen hatten und vor sich die endlose Ebene sahen, hatte Myla geseufzt und sich erschöpft auf den Boden fallengelassen: „Das ist doch alles sinnlos.“
„Was meinst du?“, hatte Loran gefragt.
„Wohin wollen wir denn?“ Sie hatte auf die Ebene gedeutet und den Kopf geschüttelt.
„Weg.“
Myla hatte an seinem Hemd gezogen und zu ihm aufgeschaut.
„Vielleicht haben sie es wieder geschafft.“
„Nein, ausgeschlossen. Dieses Mal war es einfach zu stark. Die Gemeinschaft wurde zerstört.“
„Aber was sollen wir bloß tun? Wir wissen doch nicht einmal, wo wir genau sind.“
„Wir werden schon einen Ort finden und dann beginnen wir von vorn.“
„Ich kann das nicht.“
Loran hatte in ihre blassen, hoffnungslosen Augen gesehen: „Du musst.“
„Ich kann nicht ...“
„Du musst!“, hatte er sie angeschrien und dann an ihrem Arm weitergezogen.

***​


Myla zuckte mit den Schultern und starrte auf den Boden. So liefen sie schweigend weiter, bis das schemenhafte Licht der Sonne fast den Horizont berührte. Loran fing zwei echsenartige Tiere, die sich unter Steinbrocken versteckt hielten. Sie schmeckten nach Galle, aber halfen, die wenigen Vorräte zu schonen, die sich noch in seinem Rucksack befanden.
„Vielleicht sollten wir doch nach ihnen suchen?“, schlug seine Schwester vor, nachdem sie sich an ein Feuer gesetzt hatten und ihre klammen Hände rieben.
„Nein. Du weißt, was sie gesagt haben: Lauft schnell und kümmert euch nicht um uns. Sie werden uns schon finden.“
„Aber wann? Und wie?“
„Keine Ahnung. Aber umzukehren wäre verrückt. In dieser Richtung liegt nur Verderben.“
Loran zeigte mit einem von Echsenblut verschmierten Finger in die Dunkelheit hinter ihnen.
„Bist du sicher?“
Er zögerte: „Nein, aber etwas anderes kann ich nicht denken.“
„Also könnte es sein, dass ...“
„Hör auf!“, unterbrach er sie. „Das bringt nichts.“
Die beiden aßen schweigend weiter und rollten sich dann im Schutz eines niedrigen Felsens in die Decke. Keine Sterne am Himmel, nichts als der heulende Wind in der absoluten Finsternis.

***​


Ihnen war immer bewusst gewesen, dass es kein guter Ort war, an dem sie sich niedergelassen hatten. Dort, in der Ödnis der Namenlosen Berge. Aber sie hatten gehofft, damit leben zu können, sich irgendwie daran zu gewöhnen. Und so war schließlich eine starke Gemeinschaft entstanden an diesem finsteren Ort, und ihre Liebe und Zuversicht hatten die Dunkelheit verdrängt. Bis zu diesem Tag. Sie hatten gerade am Tisch gesessen und die uralten Verse rezitiert, als Loran die Veränderung spürte. Erst schwach, wie ein Zucken in einem tief liegenden Muskel, dann immer stärker. Seine Mutter hatte ihm einen fragenden Blick zugeworfen und er hatte nur genickt. Es war soweit, dieses Mal würde sich die zerstörerische Kraft nicht zurückdrängen lassen. Sie traten aus dem Haus und sahen die kleine Stadt am anderen Ende des Tals bereits in eine Staubwolke unglaublicher Größe gehüllt. Dahinter wurden der Himmel und die Berge bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Ein Geräusch wie zerreißendes Metall schallte zu ihnen hinüber, leise noch, aber sich stetig steigernd. Es hatte begonnen und würde sich nicht aufhalten lassen. Myla und Loran sollten zuerst gehen, ihre Eltern wollten ihnen folgen. Das Mädchen hatte geweint. Sie wollte die Eltern und die Gemeinschaft nicht verlassen. Loran konnte immer noch den sanften Kuss spüren, den ihm seine Mutter auf die Stirn gab, als er sich von ihr verabschiedete. In ihren Augen konnte er lesen, dass es kein Wiedersehen geben würde.

***​


Am nächsten Morgen erwachte Loran allein. Sie hatte sich also ihrem Zweifel ergeben, war sein erster Gedanke. Er stand auf und jeder Muskel in seinem Körper brannte. Im Gras der Steppe konnte er Mylas Spuren erkennen, die sich von seinem Lager entfernten. Sie lief zurück. Mit vom Wind und Sand entzündeten Augen starrte er in die Richtung, in die sich seine Schwester entfernt hatte. Was sollte er auch anderes tun, als ihr zu folgen? Sie war schließlich alles, was ihm geblieben war von der Gemeinschaft und der Hoffnung auf ein neues Leben.

Er fand sie einige Stunden später. Sie saß zusammengesunken auf dem Boden und starrte auf etwas im Unendlichen. Loran berührte sie an der Schulter und strich ihr über das strähnige Haar.
„Da bist du.“
Sie antwortete nicht.
„Wir haben wertvolle Stunden verloren.“ Er setzte sich neben sie in den Sand.
„Ich kann sie nicht mehr spüren“, wimmerte Myla.
Ihr Bruder nickte nur. Wie sollte er ihr den Schmerz nehmen, wenn es ihn selbst innerlich zerriss.
„Wie konnte es soweit kommen?“
„Wir wussten, dass es gefährlich war dort zu leben.“
„Ja. Und jetzt ist alles verloren.“
„Wir leben noch.“ Er umarmte sie zögerlich, doch sie befreite sich und sprang auf.
„Und was haben wir davon?“, schrie sie ihn an. „Sag es mir!“
„Myla, beruhige dich.“ Loran erhob sich und zog sie an seine schmale Brust. Spürte, wie ihr Körper bebte, während sie weinte und weinte.
„Was sollen wir nur tun?“, fragte sie dann und sah ihm in die Augen.
„Es wird andere geben.“
„Wo, Loran, wo?“
Darauf wusste er keine Antwort.
„Lass uns weitergehen“, sagte er stattdessen und schulterte seinen Rucksack. Myla war unschlüssig.
„Bitte“, Loran streckte seine Hand nach ihr aus.
Myla warf einen letzten sehnsüchtigen Blick zurück, dann nahm sie seine Hand und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Weiter ins Ungewisse.

 

© Copyright Oliver Riede


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